Seite:Edith Stein - Aus dem Leben einer jüdischen Familie.pdf/58

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

Einfällen, keck und naseweis, dabei unbezähmbar eigenwillig und zornig, wenn etwas gegen meinen Willen ging. Meine älteste Schwester, die ich so sehr liebte, hat ihre junge Erziehungsweisheit vergeblich bei mir angewandt. Ihr letztes Mittel war, mich in eine dunkle Kammer zu sperren. Wenn diese Gefahr drohte, legte ich mich steif auf den Boden, und meine zarte Schwester konnte mich nur mit äußerster Anstrengung aufheben und forttragen. In dem finstern Gefängnis ergab ich mich keineswegs in mein Schicksal, sondern schrie aus Leibeskräften und trommelte mit beiden Fäusten gegen die Tür, bis meine Mutter schließlich sagte, dies könne man den Mitbewohnern des Hauses nicht zumuten, und mich befreite.

Das war es, was meine Angehörigen für gewöhnlich äußerlich an mir beobachten konnten. Aber in meinem Innern gab es noch eine verborgene Welt. Was ich am Tage sah und hörte, das wurde dort verarbeitet. Der Anblick eines Betrunkenen konnte mich tage- und nächtelang verfolgen und quälen. Ich bin später oft dankbar gewesen, daß von meinen Brüdern in diesem Punkte nichts zu befürchten war und daß ich auch keinen andern mir nahestehenden Menschen in diesem schauderhaften Zustand sehen mußte. Es blieb mir immer unbegreiflich, wie man über so etwas lachen konnte, und ich habe in meiner Studentenzeit angefangen, ohne einer Organisation beizutreten oder ein Gelübde abzulegen, jeden Tropfen Alkohol zu meiden, um nicht durch eigene Schuld etwas von meiner Geistesfreiheit und Menschenwürde zu verlieren. Wenn in meiner Gegenwart von einer Mordtat gesprochen wurde, lag ich nachts stundenlang wach, und das Grauen kroch aus allen dunklen Ecken auf mich zu. Ja, ein etwas derber Ausdruck, den meine Mutter in meiner Gegenwart erregt aussprach, schmerzte mich so, daß ich die kleine Szene (eine Auseinandersetzung mit meinem ältesten Bruder) nie vergessen konnte. Von all diesen Dingen, an denen ich heimlich litt, sagte ich niemanden je ein Wort. Es kam mir gar nicht in den Sinn, daß man über so etwas sprechen könnte. Nur selten verriet ich meinen Angehörigen etwas davon; ich bekam nämlich manchmal ohne erkennbare Ursache plötzlich Fieber, und im Delirium sprach ich dann aus, was mich innerlich beschäftigte. Einen solchen Fall haben mir meine Geschwister oft erzählt. Als ich etwa 5 Jahre alt war, las meine Schwester Frieda in der Schule „Maria Stuart“ und durfte dann mit meiner Mutter ins Theater gehen, als das Stück aufgeführt wurde. Es war vorher viel davon die Rede, und ich hatte wie gewöhnlich mehr aufgeschnappt als für mich bestimmt war. Während die beiden im Theater waren, kamen bei mir die Fieberphantasien, und ich rief ein über das andere Mal in großer Erregung: „Schlagt doch der Elisabeth den Kopf ab!“ Ich erinnere mich noch

Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 43. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/58&oldid=- (Version vom 31.7.2018)