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wurde bei uns ein Bügeleisen vermißt. Meine Mutter hatte keinen Zweifel, wo es steckte, und fing es sehr schlau an, es wiederzubekommen. Sie sagte zu dem Ehemann, seine Frau hätte sich unser Bügeleisen geborgt; er solle sie doch erinnern, daß sie es wiederbrächte. Daraufhin war es bald wieder zur Stelle. Für die Kinder war es ein großes Unglück, als sie diese Mutter verloren. Der Mann heiratete bald wieder, die zweite Frau behandelte seine Kinder unmenschlich, und er wußte sie nicht dagegen zu schützen. Ein kleines Mädchen hatten wir einmal ein paar Tage bei uns im Haus, weil es bei der Stiefmutter seines Lebens nicht mehr sicher war. Es wurde dann im Kinder-Obdach untergebracht. Seit der zweiten Verheiratung war der Mann auch im Geschäft nicht mehr zu brauchen. Sich alles Brennholz für den häuslichen Gebrauch mitzunehmen, hatte er immer als sein gutes Recht angesehen. Er hatte es offen getan und meine Mutter hatte es geschehen lassen. Als sie aber erfuhr, daß er heimlich vor und nach der Geschäftszeit für seine Rechnung aus unserm Lager Bretter verkaufte, mußte sie ihn entlassen.

Dagegen ist sein langjähriger Arbeitsgefährte Siedel bis zu seinem Tode bei uns gewesen. Er stammte aus dem schlesischen Gebirge; ein hagerer, langer Mensch, auch lungenschwach. Er war still, fleißig und solide; nur wenn seine Frau ihn von Zeit zu Zeit antrieb, Lohnaufbesserung zu verlangen, trank er sich erst etwas Mut an und verlangte dann barsch sein Buch (zur Entlassung); da man schon wußte, was das bedeutete, kam es immer schnell zu einer gütlichen Einigung. Als wir unser Wohnhaus kauften, zog er mit seiner Familie als Hausmeister in die Giebelwohnung ein. Die Frau war sehr tüchtig in aller Hausarbeit, ihren beiden Kindern eine sehr zärtliche Mutter und eifrig bemüht, etwas „Besseres“ aus ihnen zu machen; der übrigen Welt gegenüber nahm sie ihren Vorteil energisch wahr und verfügte dazu über eine scharfe und geschwinde Zunge. Der Mann ging still wie ein guter Geist im Hause umher, um überall nach dem Rechten zu sehen. Wenn er in aller Früh aufstand, ging er mit den Schuhen in der Hand die Treppe hinunter (um niemanden, vor allem nicht seine Frau, im Schlaf zu stören) zur Heizung. Tagsüber arbeitete er wie früher auf dem Holzplatz. Er starb in unserm Hause. Die Frau rief uns zu Hilfe, als der Todeskampf kam. Mein Bruder Arno und ich gingen mit ihr (wir beide standen während des Krieges im Dienst des Roten Kreuzes); ich habe ihm die Augen zugedrückt.

Der Holzplatz war das Reich meiner Mutter. Bis der Achtstundentag gesetzlich eingeführt wurde, war das Geschäft geöffnet, solange es Tag war. Nur zu einer kurzen Mittagspause kam sie (und kommt

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Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 30. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/43&oldid=- (Version vom 31.7.2018)