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Mutter und uns allen gewählt. Sie war eine alte Freundin unserer Familie, eine Klassengefährtin meiner Schwester Else vom Seminar her. Sie war sehr jung mit ihren Angehörigen nach Amerika gegangen, hatte dort geheiratet, aber die Ehe später wieder gelöst. Sie verdiente sich selbst ihren Unterhalt und verwandte ihre Ersparnisse zu Reisen nach Deutschland, um meine Schwester in Hamburg und uns in Breslau zu besuchen. Sie war sehr lustig, laut und lebhaft und brachte immer viel Leben in unser ruhiges Haus. Sie hatte wohl längst die Heirat mit meinem Bruder ins Auge gefaßt, ehe er selbst auf den Gedanken kam. Sie war überglücklich, als ihr Wunsch in Erfüllung ging, und wurde mit Freuden in die Familie aufgenommen. Das junge Ehepaar zog sogar in unser eigenes Haus, das wir kurz zuvor gekauft hatten; ja, anfangs versuchte man sogar einen gemeinsamen Haushalt zu führen. Aber auch hier war kein harmonisches Zusammenleben möglich. Was meine Mutter an meinen beiden Schwägerinnen beständig kränkt, ist, daß sie beide nicht gelernt haben, einen geordneten Haushalt zu führen. Die eine ist musikalisch begabt und hat immer viel Zeit zum Stundennehmen und Stundengeben gebraucht. Die andere liebt es, Einkäufe und Besuche zu machen und immer neue Anregungen außerhalb des Hauses zu suchen. Und beide sind meiner Mutter durchaus wesensfremd. So gütig und hilfsbereit meine Mutter sonst allen Menschen gegenüber ist, gegen gewisse Charakterfehler ist sie durchaus unduldsam: das sind vor allem Unwahrhaftigkeit, Unpünktlichkeit und ein übersteigertes Selbstbewußtsein. Leute, die am liebsten von sich selbst sprechen und ihre eigenen Leistungen nicht genug rühmen können, sind ihr unerträglich, und sie gibt ihrem Mißfallen auch unverhohlen Ausdruck. Sie war immer sehr unglücklich, wenn wir ihr – halb im Scherz, halb im Ernst – manchmal sagten, daß sie eine schlechte Schwiegermutter sei. Es ist aber die stark ausgeprägte Familieneigenart ein großes Hemmnis für die Aufnahme fremder Elemente. Das Urteil: „Die sind ganz anders als wir“ bedeutete im Munde meiner Mutter und meiner Schwestern Frieda und Rosa immer einen entschiedenen Trennungsstrich. Meine Brüder sind dadurch in eine schwierige Lage gekommen, und nur eine große Herzensgüte und Treue machte es ihnen möglich, einen Bruch zu vermeiden. Beide leben glücklich mit ihren Frauen und stehen in andern Dingen stark unter ihrem Einfluß. Aber meine Schwägerinnen wissen, daß sie an das Verhältnis zur Mutter nicht rühren dürfen; die Anhänglichkeit an sie ist unvermindert geblieben. Mein Bruder Paul kommt die ganzen Jahrzehnte hindurch, seit er verheiratet ist, am Freitagabend in das Haus seiner Mutter, um den Sabbatbeginn zu feiern. In den ersten Jahren kam meine Schwägerin

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Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 21. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/34&oldid=- (Version vom 31.7.2018)