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überaus gütiger Mensch. Jahrelang hatte Grete gezögert, ihm ihr Jawort zu geben. Als sie mit mir sprach, kämpfte sie noch heftig mit sich und meinte, es sei jetzt schon zu spät. Einige Jahre später kam aber die Verbindung doch zustande.

Daß ich bei meiner Jugend schon ein gewisses Ansehen in der Stadt hatte, in den intellektuellen Kreisen und sogar bei der Hochfinanz (beides stand in Breslau in naher Beziehung) etwas galt, erfüllte meine Mutter mit einem gewissen Stolz. Wenn etwas ihre Freude in dieser Zeit trübte, so war es die übergroße Arbeitslast, die ich auf mir hatte. Wenn ich aus der Schule kam, legte ich alle Schulsachen beiseite und nahm meine Doktorarbeit vor. Zum Abendessen erschien ich in der Familie, zog mich aber nach Tisch sofort wieder zurück. Erst etwa um 10 Uhr begann ich mich für den Unterricht des nächsten Tages vorzubereiten. Wurde ich dabei so müde, daß ich kaum noch etwas auffassen konnte, dann las ich ein wenig Shakespeare. Das wirkte so auf meine Lebensgeister, daß es wieder weiterging. Ehe meine Mutter zu Bett ging, kam sie erst zu mir herein und bot mir ihren Arm, um mich mitzunehmen. Dann wehrte ich lächelnd ab, und sie zog sich nach einem Gutenachtkuß zurück. Sie sorgte aber dafür, daß ich immer noch eine kleine Stärkung für die nächtliche Arbeit bekam. Wenn die Familie Obst aß, wurde ein Tellerchen voll für mich mundfertig zurechtgemacht und mir auf den Schreibtisch gestellt. Außerdem hatte Rosa in einem geheimen Versteck einen Vorrat an Keks und Schokolade und brachte mir jeden Abend etwas davon. Trotzdem machten sich die Folgen der fortgesetzten Anspannung allmählich bemerkbar. Im Sommer 1916 kam zuerst eine längere Periode völliger Appetitlosigkeit, die sich dann fast jedes Jahr wiederholte. Ich nahm in kurzer Zeit wohl etwa zwanzig Pfund ab. Dabei kam ich im stillen zu der Überzeugung, daß sich Schuldienst und angestrengte wissenschaftliche Arbeit auf die Dauer nicht vereinen ließen. Es war mir klar, daß ich ohne Zögern den Schuldienst aufgeben würde (obgleich er mir lieb war), wenn ich hoffen dürfte, wissenschaftlich etwas Tüchtiges zu leisten. Darum bedeutete Husserls Urteil über die Dissertation für mich eine Entscheidung über meinen Lebensweg.


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Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 278. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/297&oldid=- (Version vom 31.7.2018)