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das Seminarjahr nicht dort durchmachen könnte. Er riet mir dringend davon ab. In einem fremden Bundesstaat hätte ich kaum Aussicht auf Anstellung. Ich folgte seinem Rat und trat Ostern offiziell in den öffentlichen Schuldienst ein. Der Kreisarzt, der mich für das erforderliche Gesundheitszeugnis untersuchte, fand mich zunächst etwas zart aussehend, stellte aber dann mit Befriedigung fest, daß ich „völlig gesund und tauglich zu dauernder Bekleidung eines öffentlichen Amtes“ sei. Unsere Ausbildung bestand darin, daß Provinzialrat Jantzen uns wöchentlich eine Lehrkonferenz im Provinzialschulkollegium hielt, daß wir ihm manchmal eine schriftlich ausgearbeitete Lehrprobe abgeben mußten und daß er auch gelegentlich unsern Unterricht besuchte. Bei mir ist er nur einmal in einer Lateinstunde gewesen. Meine Lehrprobe schrieb ich auf, nachdem ich die entsprechende Stunde gehalten hatte. Es vorher zu tun, wie es Vorschrift war, brachte ich nicht fertig. Ich sagte, das käme mir vor, als ob man eine Liebeserklärung vorher aufsetzen würde. – Die Lehrkonferenzen sagten mir sehr viel weniger zu als einst die Schulstunden des jungen Lehrers. Ich war in vielem ganz anderer Ansicht als Dr. Jantzen. Es trat bei manchen seiner Äußerungen ein Nationalismus zutage, den ich nicht teilen konnte, obwohl ich sehr vaterländisch gesinnt war. Zu gelegentlichen abfälligen Äußerungen über das Alte Testament konnte ich nur den Kopf schütteln. Ich scheute mich nicht, meine abweichende Meinung sehr freimütig auszusprechen. Dr. Jantzen nahm das keineswegs übel, und unsere Beziehungen blieben ungetrübt.

Für meine liebe Mutter war mein Eintritt in den Schuldienst wohl eine ganz große Freude. Sie sagte kaum etwas darüber, aber es war ihr anzumerken, wie froh sie war. Ursprünglich war sie für den Lehrberuf gar nicht sehr begeistert, weil sie ihn für eine große Plackerei hielt. Aber nach den merkwürdigen Zickzacklinien meines bisherigen Lebensweges hatte sie nun den Eindruck, daß ich in einem sicheren Hafen gelandet sei. Wenn die Tätigkeit an der Viktoriaschule auch vorläufig nur eine Aushilfe war, so konnte doch leicht daraus eine Lebensstellung werden – die angesehene Stellung einer „Oberlehrerin“ (der gewichtige Titel, „Studienrätin“ wurde erst nach der Revolution von 1918 eingeführt). Meine Schwester Else hatte sich jahrelang vergeblich um eine Schultätigkeit bemüht. In Preußen hatte sie als Jüdin nirgends ankommen können und war froh, als sie schließlich in Hamburg an einer Privatschule unterrichten durfte. Mir schien nun das Glück in den Schoß zu fallen. Meine Mutter hatte die Aussicht, mich nach längerer Trennung dauernd daheimzuhalten. Dazu war ich in so vertrauten Verhältnissen – in der Schule, in der ich aufgewachsen war. Und es war eine

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Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 276. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/295&oldid=- (Version vom 31.7.2018)