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er antwortete, das sei nicht mehr möglich. Ich sollte nur in aller Ruhe das „opus eximium“ zu Ende führen und dann nach Freiburg kommen. Er werde dort mit der größten Freude erwartet und die neuen Kollegen würden zweifellos auch seinen Doktoranden in jeder Weise entgegenkommen.

Bald wurde meine Arbeit noch von einer andern Seite her bedroht: Eines Morgens brachte die Post einen Brief des stellvertretenden Direktors der Viktoriaschule. Unser alter Direktor Roehl war während des Krieges gestorben. Wohl, weil eine Reihe von Lehrern im Felde standen, wurde die Ernennung eines neuen Schulleiters bis nach dem Kriege verschoben. Die Direktoratsgeschäfte wurden vorläufig Herrn Professor Leugert übertragen, unserm alten guten Neuphilologen. Die Lauterkeit seiner Gesinnung und seine große Herzensgüte ließen wohl hoffen, daß er mit den menschlichen Schwierigkeiten dieser Stellung eher als irgendein anderer fertig werden würde. Man konnte sich keinen milderen und anspruchsloseren Vorgesetzten wünschen. Aber er selbst trug schwer an seiner Last. In wenigen Zeilen bat er um meinen Besuch, ohne den Grund anzugeben. Zur angegebenen Stunde machte ich mich mit einiger Spannung auf den Weg – meinen wohlbekannten alten Schulweg. Es war am Vormittag während des Unterrichts. Ich betrat das Direktorhaus, das vorn an der Straße lag – zum Schulgebäude mußte man über den großen Hof gehen – und klopfte an das Amtszimmer. Mit herzlicher Freundlichkeit wurde ich empfangen. Und nun kam das große Anliegen: Professor Olbrich, unser alter Lateinlehrer, stand als Hauptmann der Reserve in Polen. An seiner Stelle hatte bisher Herr Oberlehrer Kretschmar den Unterricht in den drei oberen Klassen des Realgymnasiums gegeben – ein junger Lehrer, der noch während meiner Schulzeit angestellt wurde; ich kannte ihn vom Sehen, hatte aber keinen Unterricht mehr bei ihm gehabt. Nun war er erkrankt und brauchte dringend Erholung im Gebirge. Es waren wohl noch Herren da, die die Lehrbefähigung für Mittelstufe hatten, aber die Oberklassen wagte keiner zu übernehmen. Da waren sie auf den Gedanken gekommen, mich um die Vertretung zu bitten. Ich hatte zwar gar keine facultas für alte Sprachen, aber man hatte mich noch als gute Lateinerin in Erinnerung. Und im Krieg ging ja alles. Zwei Studentinnen, die ein Jahr nach mir Abitur gemacht hatten und noch vor dem Staatsexamen standen, halfen bereits in Mathematik und Naturwissenschaften aus. Ich war ganz betroffen über den Vorschlag. Was sollte aus meiner Doktorarbeit werden? Professor Leugert versprach mir einen zusammenhängenden Stundenplan, der mir noch reichlich Zeit für wissenschaftliche Arbeit ließe. „Herr Professor, ich habe noch nie vor

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Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 271. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/290&oldid=- (Version vom 31.7.2018)