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Materialkenntnis und das besondere Verfahren der Holzrechnung machte sie sich schnell zu eigen. Und ganz allmählich, Schritt für Schritt, gelang es ihr, sich emporzuarbeiten. Es war schon nicht einfach, sieben Kinder satt zu bekommen und zu bekleiden. Wir haben nie gehungert, aber an größte Einfachheit und Sparsamkeit sind wir gewöhnt worden, und etwas davon ist uns bis heute geblieben. Ich bin in den Kreisen, in denen ich später verkehrte, immer wieder durch wenig standesgemäßes Auftreten aufgefallen; und obwohl mir dies, wie jedes Aufsehen, peinlich war, ist es mir doch nie gelungen, mich wesentlich zu bessern.

Es genügte meiner Mutter nicht, das Nötigste für den täglichen Bedarf zu beschaffen. Zunächst hatte sie sich eine große Aufgabe gestellt: niemand sollte meinem toten Vater nachsagen, daß er seine Schulden nicht gezahlt hätte; sie wurden nach und nach bis zum letzten Pfennig abgetragen. Dann galt es, den Kindern eine gute Ausbildung zu geben. Mein Bruder Paul war 21 Jahre alt, als mein Vater starb. Er hatte das Gymnasium bis Prima besucht, aber zum Universitätsstudium langten die Mittel nicht. Vielleicht hätte man doch einen Weg gefunden, wenn er darauf bestanden hätte. Aber es war nicht seine Art, „sich durchzusetzen“. Weil er ein leidenschaftlicher Bücherwurm war, gab man ihn als Lehrling in eine Buchhandlung. Aber er ist nicht dabei geblieben. Meine Mutter mußte darauf hinarbeiten, Hilfe ins Geschäft zu bekommen. Es ist mir immer als sehr charakteristisch erschienen, daß sie niemals Buchführung erlernt und ihre Bücher geführt hat. Sie verhandelte mit Kunden: meist Tischlern, Stellmachern, Holzbildhauern, Bauunternehmungen, und mit Lieferanten: Großhändlern, Großgrundbesitzern, polnischen Juden, die als Zwischenhändler kamen; sie maß und verrechnete Bretter, und wenn eine Wagenladung schnell abgeladen werden mußte, so kletterte sie gern auf den Wagen und schob mit den Arbeitern um die Wette schwere Bohlen hinunter.

Aber die trockene Büroarbeit lag ihr nicht. (Auch mir hat sie immer widerstanden, wie keine andere Beschäftigung). Längere Zeit hat ihr Schwager und Onkel Jakob Burchard für sie die Bücher geführt. (Er war der Bruder meiner Großmutter und hatte seine Nichte Cilla geheiratet). Dann tat es mein Bruder Paul, bis er seinem jüngeren Bruder Platz machte. Er selbst fand Unterkunft in einem Bankgeschäft; er ist jahrzehntelang Bankbeamter gewesen und hat seinen Posten mit übergroßer Gewissenhaftigkeit und Pünktlichkeit ausgefüllt, ohne je die verdiente Anerkennung zu finden. Für die wenig befriedigende Berufsarbeit entschädigte er sich in seinen nur zu knappen freien Stunden durch Bücher, Musik und Wanderungen. Seit einigen Jahren ist er mit einem bescheidenen Ruhegehalt pensioniert,

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Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 18. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/29&oldid=- (Version vom 31.7.2018)