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leuchtete es ihr ein, daß eine Aussprache mit Husserl sehr angebracht sei. Pauline Reinach war voller Bewunderung, als ich in Göttingen davon erzählte. Ihre Aufforderung war ihr, nachdem sie den Brief abgeschickt hatte, als eine starke Zumutung erschienen. Und sie selbst hätte bei ihrer Familie in Mainz keineswegs soviel Verständnis gefunden.

Da war ich nun nach fast einem Jahr Abwesenheit wieder in Göttingen. Als mir Liane Weigelt wie früher bei Tisch gegenübersaß, sagte sie: „Sie sehen noch ganz unverändert aus, Fräulein Stein“. „Das finde ich nicht“, erklärte Frau Gronerweg. „Man sieht es Fräulein Stein an, daß sie den Ernst des Lebens kennengelernt hat“. Pauline wohnte vorläufig noch bei Gronerwegs. Aber sie sollte bald in den Steinsgraben übersiedeln, denn Frau Reinach wollte nicht wieder fortgehen, sondern ihren Haushalt in Göttingen auch nach Reinachs Abreise weiterführen.

Am 23. Dezember hatte Reinach Geburtstag. Das war der Tag nach meiner Ankunft. Am Vormittag wurde ich im Steinsgraben erwartet. Ich kaufte ein schönes zeitgemäßes Buch als Geburtstagsgeschenk und machte mich voll froher Erwartung auf den Weg. Als ich die wohlbekannten zwei Treppen hinaufgestiegen war, sah ich schon durch die Glastür, daß alle draußen vor der Garderobe versammelt waren. Man begleitete gerade einen Gast hinaus. Es wurde geöffnet, ich trat ein und stand meinem Vetter Richard Courant gegenüber. Wir waren beide gleich überrascht. „Wie, du bist hier?“ rief er lebhaft. „Komm sofort mit mir mit, ich muß mit dir sprechen“. Ich sah Reinach hilfesuchend an. Es wäre mir sehr schwer geworden, auf der Schwelle wieder umzukehren. Aber Richard gab nicht leicht etwas auf, was er sich in den Kopf gesetzt hatte. Auch er wandte sich an den Hausherrn als an die oberste Instanz: „Reinach, sagen Sie ihr doch, daß sie mitgehen soll“. „Das muß sie schon selbst entscheiden“. Das hieß wohl soviel, daß ich mich in mein Schicksal ergeben müsse. Aber da kam Hilfe von einer andern Seite: Frau Reinach griff ein. „Kommen Sie doch beide heute nachmittag zu uns zum Kaffee. Husserls kommen noch außerdem und Putti Klein. Dann können Sie sich in ein anderes Zimmer zurückziehen und ganz ungestört miteinander reden, solange Sie wollen“. Das war ein so einwandfreier Vorschlag, daß Richard nichts mehr zu erwidern wußte. Er ging, wir atmeten auf und konnten uns erst jetzt richtig begrüßen. Reinach war breit und kräftig geworden, der Felddienst bekam ihm gut. Frau Reinach lernte ich eigentlich jetzt richtig kennen. Früher war ich ja fast nur als Studentin zu meinem Lehrer gekommen. Jetzt aber gehörte ich zum allernächsten Kreis, zu den „Trauernden erster Ordnung“, wie

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Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 267. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/286&oldid=- (Version vom 31.7.2018)