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Methode. O wie anders ging das jetzt als damals! Freilich setzte ich mich jeden Morgen mit Zagen an meinen Schreibtisch. Ich war wie ein winzig kleiner Punkt im unendlichen Raum – würde aus dieser großen Weite etwas zu mir kommen, was ich fassen konnte? Ich legte mich in meinem Stuhl ganz weit hintenüber und richtete mit schmerzhafter Anspannung den Geist auf das, was mir gerade die dringlichste Frage war. Nach einer Weile war es, als ob ein Licht aufginge. Ich konnte zum mindesten die Frage formulieren und fand Wege, ihr zu Leibe zu rücken. Und sobald mir eine Sache klar war, eröffneten sich neue Fragen, nach verschiedenen Seiten („neue Horizonte“, pflegte Husserl zu sagen). Ich hatte immer neben den schönen Blättern, auf die der laufende Text kam, einen Zettel liegen, um alle die aufsteigenden Fragen zu notieren; sie mußten ja alle an ihrem Ort behandelt werden. Indessen füllte sich Seite um Seite, ich wurde rot und heiß vom Schreiben und ein ungekanntes Glücksgefühl durchströmte mich. Wenn ich zum Mittagessen gerufen wurde, kehrte ich wie aus einer andern Welt zurück. Erschöpft, aber voll Freude ging ich hinunter. Ich war ganz erstaunt, was ich nun alles wußte; Dinge, von denen ich vor ein paar Stunden noch nichts geahnt hatte; und ich war froh über die vielen angesponnenen Fäden, die ich wieder aufgreifen konnte.

Dennoch war es jeden Tag wie ein neues Geschenk, daß es weiterging. Und es ging immer weiter, etwa drei Monate lang in einem Zuge. Dann hatte sich etwas von mir abgelöst und wie zu einem Dasein gerundet. Ich konnte noch nachprüfen, Einzelheiten berichtigen und ergänzen; vor allem mußte ich noch viel Literatur nachlesen und mit Hilfe dessen, was ich mir nun selbst erarbeitet hatte, kritisch erwägen. Aber das alles war nur ein Nachfeilen an einem Gebilde, das als Ganzes fertig dastand. So weit war ich wohl Ende Januar 1916. Weihnachten war, so weit ich mich erinnere, noch nicht die Hälfte niedergeschrieben, aber es war doch schon ein gutes Stück vorhanden, über das ich ganz gern einmal mit Husserl gesprochen hätte, um ein vorläufiges Urteil zu hören. Kurz vor Weihnachten kam ein Brief von Pauline Reinach: ihr Bruder käme zum Fest auf Urlaub; sie fänden es alle sehr nett, wenn ich auch nach Göttingen käme. Urlaub – damit hatte ich bisher nie gerechnet! Wiedersehen mit Reinach war mir bisher immer gleichbedeutend mit Frieden gewesen. Es war fast zu schön, um wirklich zu werden. Ich fragte meine Mutter, was sie zu dem Vorschlag meine. Es war ja doch auch eine Frage des Geldbeutels; zu einer so weiten Reise ohne zwingenden Grund entschloß man sich in unserer Familie nicht so leicht. Aber in diesem Fall redete mir meine Mutter sofort zu. Sie gönnte mir die große Freude des Wiedersehens von Herzen. Außerdem

Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 266. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/285&oldid=- (Version vom 31.7.2018)