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war. Husserls großes Logik-Kolleg, das ich im ersten Kriegswinter hörte und das ihm noch unbekannt war, schrieb ich sorgfältig mit und ließ dann mein Kollegheft für ihn abtippen. Meine Schwester Frieda war zu solcher Arbeit stets bereit. Dieses Geschenk beglückte Kaufmann so, daß nicht nur er selbst mir dankte, sondern auch seine einzige Schwester Martha, die offenbar mit großer Liebe an ihrem ältesten Bruder hing. Sie hielt die briefliche Verbindung mit mir jahrelang aufrecht; gesehen haben wir uns nie, und nach ihrer Verheiratung schlief auch der Briefwechsel ein. Den äußersten Gegensatz zu Kaufmann bildete Hans Lipps. Ihm war die gewöhnliche bürgerliche Ordnung eine Zwangsjacke, die er mit Freuden abgeworfen hatte. Das Unberechenbare des Kriegslebens entsprach ihm so sehr, daß er einmal während eines Urlaubs sagte: „Was fang ich nur an, wenn mal der Frieden ausbricht?“ Sein Verhältnis zur Philosophie war ein so organisches, daß keine Umgebung und keine fremde Beschäftigung es stören konnte. Wie er es sich selbst leisten konnte, Naturwissenschaften und Medizin zu studieren und zeitweise als Arzt tätig zu sein, ohne daß seine philosophische Entwicklung darunter litt, so konnte er im Unterstand ebenso gut arbeiten wie bei der Musik eines Cafés oder Tanzlokals in Göttingen oder Dresden. Seine Briefe enthielten meist nur wenige Sätze; in seiner großen Handschrift – für Unkundige nicht zu entziffern, aber jeder Buchstabe ein Ornament – gab das doch einen vollen Bogen. Husserl sagte, es stünde nichts darin. Tatsächlich war nichts über die Kriegslage daraus zu entnehmen. Aber mir bedeuteten die wenigen Worte viel: sie gaben immer ein treues Bild seines Daseins. Bald erzählte er von einer Grille, die in der Nähe seines Unterstands wohnte und mit der er seine Pralinés teilte; bald von dem Käuzchen, das er sich in einer Kirche gefangen hatte; er nannte es Rebekka und behielt es lange Zeit bei sich. Es war ein Ersatz für den Steinkauz Caruso, den er bei seiner Mutter in Dresden zurückgelassen hatte. Frau Lipps fütterte ihn, wie es ihr aufgetragen war, mit Kanarienvögeln. Als sie keine mehr bekommen konnte, entschloß sie sich schweren Herzens, ihn auszusetzen. Sie fuhr in einer Taxe mit Caruso in die Dresdener Heide und ließ ihn dort zurück, besuchte ihn aber noch manchmal später. Mit einem Feldpostpäckchen konnte man Lipps glücklich machen. Er schrieb einmal: „Sie haben eine unerhörte Treffsicherheit im Herausfinden dessen, was ich gerade nötig habe“. Das waren sehr verschiedene Dinge: mal ein japanischer Holzschnitt, mal ein paar Abhandlungen über Relationstheorie, öfters nur gute Pralinés oder andere Süßigkeiten.

Auch in Breslau fehlte es nicht an freundschaftlichem Verkehr. Rose und Metis hatten nun auch ihr Staatsexamen gemacht und

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Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 264. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/283&oldid=- (Version vom 31.7.2018)