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kann sie sich nicht immer entschließen, sie an wirkliche Arme zu geben, wie es eigentlich sein sollte, weil sie dabei mit der großen Liebe zu ihren Blutsverwandten, besonders zu ihren Geschwistern, in Konflikt kommt).

In jenen Jahren starb meine Großmutter. Meine Schwester Rosa, die damals gerade geboren war, bekam ihren Namen – Adelheid – noch nachträglich hinzu. (Es ist bei Juden nicht üblich, die Kinder nach noch lebenden Angehörigen zu nennen). Drei Cousinen, die im Jahr darauf zur Welt kamen, erhielten ihn als Rufnamen.

Weil es in Lublinitz nicht möglich war, wirtschaftlich hochzukommen, beschlossen meine Eltern, nach Breslau überzusiedeln. Es geschah wohl auch der Kinder wegen, die man sonst aus dem Hause geben mußte, um sie höhere Schulen besuchen zu lassen. Mein Bruder hatte schon in Oppeln und Kreuzberg das Gymnasium besucht und unter unverständiger Behandlung durch die Verwandten, bei denen er untergebracht war, viel gelitten. Von meinen sechs älteren Geschwistern sind drei in Gleiwitz und drei in Lublinitz geboren. Meine Schwester Erna war bei der Übersiedlung nach Breslau sechs Wochen alt (Ostern 1890). Meine Eltern bezogen eine kleine Mietwohnung in der Kohlenstraße. Das kleine Häuschen, in dem ich geboren wurde, ist jetzt längst abgerissen und ein großes, neues an seiner Stelle erbaut. Ganz in der Nähe wurde ein Lagerplatz gemietet, um ein neues Holzgeschäft zu eröffnen. Die Hauswirtin war ein zänkisches, altes Weib, das sich alle Mühe gab, meiner Mutter das Leben schwer zu machen. Schwere Nahrungssorgen kamen hinzu; das neue Geschäft war mit Schulden belastet und richtete sich nicht so schnell ein. Daß meine Mutter auch in ihrem Eheleben Schweres zu ertragen hatte, darüber hat sie nie ein Wort gesagt. Sie hat immer nur im Ton herzlicher Liebe von meinem Vater gesprochen, und wenn sie heute, nach so vielen Jahrzehnten, an seinem Grab steht, sieht man, daß der Schmerz um ihn nicht erloschen ist. Sie hat nach seinem Tode immer schwarze Kleider getragen.

Mein Vater starb auf einer Geschäftsreise am Hitzschlage. Er hatte an einem heißen Julitage einen Wald zu besichtigen und mußte eine größere Strecke zu Fuß gehen. Ein Briefträger, der über Land ging, sah ihn von weitem liegen, nahm aber an, daß er sich zum Ausruhen hingelegt habe, und kümmerte sich nicht weiter darum. Erst als er ihn nach Stunden auf dem Rückweg noch an derselben Stelle sah, ging er hin und fand ihn tot. Meine Mutter wurde benachrichtigt und holte die Leiche nach Breslau. Der Ort, wo mein Vater starb, liegt zwischen Frauenwaldau und Goschütz. Nahe dabei ist eine Holzschneidemühle, in der oft die frisch geschlagenen Stämme für

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Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 16. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/27&oldid=- (Version vom 31.7.2018)