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verbrauchten Luft von 60 Kranken verlassen durfte. Mein erster Weg war dann immer ins Badezimmer der Station. Nach diesem Morgenbad fühlte ich mich einigermaßen von den Bazillen gereinigt. Dann verließ ich die Reitschule, nahm schnell im großen Speisesaal mein Frühstück und eilte ins Freie. Gewöhnlich fand sich eine Gefährtin zu einem kleineren oder größeren Spaziergang.

Einmal, als ich im Nachtwachezimmer von meinem Tagesschlaf erwachte, fand ich auf meinem Bett Briefe und Päckchen von daheim. Suse Mugdan war angekommen und hatte mir diese Grüße leise hingelegt, ohne mich zu wecken. Wie froh war ich, als ich sie dann begrüßen konnte! Wir hatten uns nur ein einziges Mal in Breslau gesprochen und waren beide zurückhaltend, so daß wir uns anderswo sicherlich nicht sehr schnell nahegekommen wären. Aber hier waren wir bald miteinander vertraut. O was war es für eine Wohltat, zu wissen, daß ein Mensch von solcher Herzensreinheit, von so lauterer Gesinnung, so zartem und tiefem Gefühl im Haus war! Auch für sie bedeutete es eine große Stütze, daß sie mich vorfand. Sie hätte sich allein wohl noch schwerer zurechtgefunden als ich. Suse war ein Pechvogel. Richard Courant, der sie sehr gut kannte und gern hatte, sagte, es sei ausgeschlossen, daß bei Suse Mugdan etwas ohne alle nur erdenklichen Schwierigkeiten vor sich ginge. Das zeigte sich auch jetzt. Es war ein großes Opfer, daß sie ihr spät begonnenes Studium nach wenigen Semestern wieder unterbrach; ihre Angehörigen waren keineswegs damit einverstanden. Sie tat es rein aus vaterländischem Pflichtgefühl und erwartete natürlich, jetzt ihre Kraft voll einsetzen zu können. Stattdessen kam sie auf eine damals wenig belegte Station in der Oberrealschule – zu Schwester Susi; die Helferin wurde zum Unterschied „Schwester Susanne“ genannt – und mußte das zunächst völlig leere Offizierszimmer betreuen. Als es endlich einen Bewohner erhielt, war es ein gonorrhoekranker Apotheker. Suse besorgte mit der größten Gewissenhaftigkeit erst die Möbel und Blumen des Offizierszimmers und später den jungen Mann mit der peinlichen Krankheit; (er brauchte keine eigentliche Pflege von Seiten der Schwester; man mußte ihm nur das Essen bringen und ihn etwas unterhalten und aufmuntern); aber es bedrückte sie doch, daß sie nicht vor größere Aufgaben gestellt wurde. Als später große Verwundetentransporte kamen, wurde es anders.

Große Sorge hatte Suse um ihren inniggeliebten Zwillingbruder Albrecht, der im Felde stand. Und dann gab es noch eine Belastung, an der sie immer schwer trug: Mugdans waren der Abstammung nach Juden, aber Frau Mugdan hatte nach dem Tode ihres Mannes alle ihre Kinder protestantisch taufen lassen: aus einer merkwürdig

Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 245. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/264&oldid=- (Version vom 31.7.2018)