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von ihr, das von einer wunderbaren Anmut, mädchenhaften Reinheit und tiefem Ernst ist. Sie war die Einzige im Hause, die den Glauben der Eltern bewahrt hatte und für die Erhaltung der Tradition sorgte, während bei den andern der Zusammenhang mit dem Judentum von der religiösen Grundlage losgelöst war. Sie stand einsam in ihrer andersgearteten Umgebung, und ihr Geist sehnte sich hinaus über die engen Schranken der häuslichen und geschäftlichen Angelegenheiten und des Kleinstadtlebens. Sie las gern, machte zu den Familienfesten – gemeinsam mit einer andern Schwester – kleine Theaterstückchen, in denen die Personen mit scharfem Blick und liebevollem Humor gezeichnet waren, besuchte bei Aufenthalten in Breslau oder andern größeren Städten gern das Theater. Einer ihrer Brüder, der wie sie unverheiratet geblieben war, pflegte sie auf seinen Sommerreisen mitzunehmen. Als wir heranwuchsen, wurden auch unsere Besuche für sie bedeutungsvoll. Sie ließ sich gern von unsern Studien erzählen, forschte nach unsern Ansichten über dies und jenes und ließ es, wo es ihr nötig schien, auch an Ermahnungen und Tadel nicht fehlen. Übrigens waren wir etwas zu ernst und zu wenig weltfreudig. Sie hatte, wohl als Gegengewicht gegen ihre eigene Schwere, heitere und lebenslustige Menschen gern, hätte uns wohl auch ein sonnigeres Leben, als das ihre es war, gegönnt. Das Ende ihres Lebens hängt aufs engste zusammen mit dem Verlust der oberschlesischen Heimat. Lublinitz liegt nicht weit von der polnischen Grenze. Den ganzen Krieg hindurch kamen Truppentransporte hindurch und meine Tanten betätigten sich eifrig bei der Verpflegung der Soldaten. Manche Nacht haben sie damals auf dem Bahnhof verbracht. Mein Onkel war Vertrauensmann der deutschen Behörden bei der Verteilung der Lebensmittel. Die ganze Familie zog sich durch ihr entschiedenes Eintreten für die deutsche Sache den Haß der Polen zu. Während der Abstimmungszeit wurden alle Kräfte aufgeboten, um ein (im deutschen Sinne) günstiges Ergebnis zu erzielen. Über 50 Abkömmlinge der Familie Courant, die in Lublinitz geboren waren, kamen zur Abstimmung hin. So viel wie möglich wurden im eigenen Hause untergebracht; die übrigen wurden anderswo einquartiert, aber alle täglich am eigenen Tisch aufs beste verpflegt. Das traurige Ergebnis war nach solchen Anstrengungen umso schmerzlicher: Lublinitz wurde polnisch (in der Stadt überwogen die deutschen Stimmen, aber da die Stimmen von Stadt- und Landkreis zusammengezogen wurden, konnte eine polnische Mehrheit errechnet werden), meine Verwandten konnten und wollten nicht daran denken, dort zu bleiben, sie verkauften das Stammhaus unserer Familie und verließen die Heimat.

Mein Onkel zog mit Frau und Kindern nach Oppeln, in den

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Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 11. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/22&oldid=- (Version vom 31.7.2018)