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mit großer Eindringlichkeit, ja mit dramatischer Lebendigkeit. Die Worte, die ihm besonders lieb waren (z.B. „pure Wahrheit“) sprach er mit Andacht und Zärtlichkeit aus. Stritt er sich mit angenommenen Gegnern herum, so hatte er einen verächtlichen Ton. Damals behandelte er die Fragen, die auch das Thema seines unmittelbar vorher erschienenen Buches „Zur Phänomenologie und Theorie der Sympathiegefühle“ bildeten. Sie waren für mich von besonderer Bedeutung, da ich gerade anfing, mich um das Problem der „Einfühlung“ zu bemühen.

Im praktischen Leben war Scheler hilflos wie ein Kind. Ich sah ihn einmal in der Garderobe eines Cafés ratlos vor einer Reihe von Hüten stehen: er wußte nicht, welcher sein eigener war. „Nicht wahr, jetzt fehlt Ihnen Ihre Frau?“ sagte ich lächelnd. Er nickte zustimmend. Wenn man ihn so sah, konnte man ihm nicht böse sein – auch nicht, wenn er Dinge tat, die man bei andern Menschen verurteilt hätte. Selbst die Opfer seiner Verirrungen pflegten sich für ihn einzusetzen.

Für mich wie für viele andere ist in jenen Jahren sein Einfluß weit über das Gebiet der Philosophie hinaus von Bedeutung geworden. Ich weiß nicht, in welchem Jahr Scheler zur katholischen Kirche zurückgekehrt ist. Es kann damals nicht sehr lange zurückgelegen haben. Jedenfalls war es die Zeit, in der er ganz erfüllt war von katholischen Ideen und mit allem Glanz seines Geistes und seiner Sprachgewalt für sie zu werben verstand. Das war meine erste Berührung mit dieser bis dahin völlig unbekannten Welt. Sie führte mich noch nicht zum Glauben. Aber sie erschloß mir einen Bereich von „Phänomenen“, an denen ich nun nicht mehr blind vorbeigehen konnte. Nicht umsonst wurde uns beständig eingeschärft, daß wir alle Dinge vorurteilsfrei ins Auge fassen, alle „Scheuklappen“ abwerfen sollten. Die Schranken der rationalistischen Vorurteile, in denen ich aufgewachsen war, ohne es zu wissen, fielen, und die Welt des Glaubens stand plötzlich vor mir. Menschen, mit denen ich täglich umging, zu denen ich mit Bewunderung aufblickte, lebten darin. Sie mußten zumindest eines ernsten Nachdenkens wert sein. Vorläufig ging ich noch nicht an eine systematische Beschäftigung mit den Glaubensfragen; dazu war ich noch viel zu sehr von andern Dingen ausgefüllt. Ich begnügte mich damit, Anregungen aus meiner Umgebung widerstandslos in mich aufzunehmen, und wurde – fast ohne es zu merken – dadurch allmählich umgebildet.

Es fehlt in der Darstellung meiner ersten Göttinger Zeit noch etwas Näheres über die Beziehungen zu meinen Verwandten. Mein Vetter Richard Courant war damals 25 Jahre alt, seit kurzer Zeit

Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 183. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/202&oldid=- (Version vom 31.7.2018)