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größte Vertrauen genoß er bei den Bauern der Umgebung, die am Sonntag zur Kirche und am Mittwoch zum Wochenmarkt in die Stadt kamen und dabei ihre Einkäufe machten. Einmal brachte ihm ein Bauer Geld zum Aufheben. Der Großvater nahm es und sagte: „Wart, ich will dir einen Schuldschein dafür geben“. Er brachte den Schein, der Bauer betrachtete ihn aufmerksam und gab ihn dann zurück: „Heben Sie mir den mit auf“. Die Erinnerung an den alten Herrn Courant ist heute noch bei denen lebendig, die ihn kannten. Vor zwei Jahren besuchte mich öfters eine Dozentin von der pädagogischen Akademie in Beuthen. Als ich meiner Mutter ihren Namen nannte, meinte sie, die Familie stamme sicher aus Lublinitz. Wir stellten fest, daß ihr Vater tatsächlich dort aufgewachsen, aber schon mit 16 Jahren fortgezogen war. Als ich sie einmal zu einem Spaziergang abholte, kam er herein, um mich als Sprößling der Familie Courant zu begrüßen; das sei ja eine der angesehensten Familien der Stadt gewesen, er könne sich gut an den alten Herrn erinnern.

In den letzten Jahren war mein Großvater halsleidend (ein Blasenleiden) und suchte öfters das Bad Salzbrunn auf. Ich erinnere mich, daß wir ihn dort besucht haben. Auch an seinen 80. Geburtstag erinnere ich mich, zu dem meine Mutter meine Schwester Erna und mich mitnahm. Es war eins jener großen Feste, wie sie in unserer Familie als Ausdruck kindlicher Liebe und verwandtschaftlicher Zusammengehörichkeit üblich sind; das erste, an dem ich teilnehmen durfte. Im Jahr darauf starb mein Großvater. Er wurde 83 Jahre und war nur wenige Wochen wirklich krank.[1]


2.

Haus und Geschäft wurden von seinem jüngsten Sohn und zwei unverheirateten Töchtern übernommen und in seinem Sinn weitergeführt. Das Haus blieb der Mittelpunkt der weitverzweigten und weit verstreuten Familie. „Ich fahre nach Hause“, sagte meine Mutter noch als alte Frau, wenn sie in ihre Heimat fuhr. Und für uns Kinder war es die größte Ferienfreude, wenn wir zu den Verwandten nach Lublinitz fahren durften. Der Direktor, der den Geographieunterricht in unserer Schule gab, erkundigte sich jedesmal nach den großen Ferien, was für Reisen man gemacht hätte, und quittierte mit ironischem Lächeln, wenn man nicht weiter als


  1. Dieser Satz ist im Manuskript hinzugefügt. Das Schriftbild läßt erkennen, daß er von der Hand Rosa Steins ergänzt ist.
Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 9. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/20&oldid=- (Version vom 31.7.2018)