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sehr peinliche. Diese Erfahrungen bestimmten Frau Malwine, ihre drei Kinder der Philosophie fernzuhalten. Elli, die Älteste, war in meinem Alter. Sie studierte Kunstgeschichte. Äußerlich glich sie ihrer Mutter sehr, aber sie hatte etwas viel Weicheres und Zarteres in ihrem Wesen. Gerhart wurde Jurist, ließ sich aber in späteren Jahren doch nicht vom Philosophieren abschneiden. Wolfgang war damals noch auf dem Gymnasium; er hatte eine außerordentliche Sprachbegabung und wollte Sprachen studieren. Der Jüngste war der Liebling der Mutter. Wenn sie später, nach seinem frühen Tode – er fiel 17jährig als Kriegsfreiwilliger in Flandern – von ihm sprach, lernte man ihr Herz kennen. Sie sagte mir einmal, um Wolfgangs Zukunft habe sie sich nie Sorgen gemacht. Sie habe immer gewußt, wo und in welcher Stellung er auch sein werde, da werde er seine Umgebung glücklich machen.

Beide Husserls waren von Geburt Juden, aber frühzeitig zum Protestantismus übergetreten. Die Kinder wurden protestantisch erzogen. Man erzählte sich – für die Wahrheit kann ich mich nicht verbürgen – Gerhart sei mit sechs Jahren zusammen mit Franz Hilbert, dem einzigen Kind des großen Mathematikers, zur Schule gekommen. Er fragte den kleinen Kameraden, was er sei (d.h. welcher Konfession). Franz wußte es nicht. „Wenn du es nicht weißt, dann bist du sicher ein Jude“. Der Schluß war nicht richtig, aber charakteristisch. Später pflegte Gerhart sehr offen von seiner jüdischen Abstammung zu sprechen.

In jenem Sommer hielt Husserl seine Vorlesung über „Natur und Geist“, Untersuchungen zur Grundlegung der Natur- und Geisteswissenschaften. Diesen Gegenstand sollte auch der II. Teil der „Ideen“ behandeln, der noch nicht veröffentlicht war. Der Meister hatte ihn mit dem I. Teil zusammen entworfen, die Ausarbeitung für den Druck aber verschoben, um erst die Neuauflage der „Logischen Untersuchungen“ zu besorgen. Sie war dringend erforderlich, weil das Werk seit Jahren vergriffen war und beständig verlangt wurde.

Bald nachdem Moskiewicz in Göttingen eingetroffen war, fand auch die erste Semestersitzung der „Philosophischen Gesellschaft“ statt. Das war der engere Kreis der eigentlichen Husserlschüler, der jede Woche einmal abends zusammenkam, um bestimmte Fragen durchzusprechen. Rose und ich wußten gar nicht, wie kühn es von uns war, daß wir uns sofort bei diesen Auserwählten einfanden. Da Mos es für selbstverständlich fand, daß wir mitgingen, so sahen auch wir es so an. Sonst konnte es semesterlang dauern, ehe man von dieser Einrichtung erfuhr, und wenn man eingeführt wurde, dann hörte man monatelang ehrfürchtig schweigend zu, ehe man

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Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 176. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/195&oldid=- (Version vom 31.7.2018)