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an meinen Vetter mit der Bitte, mir über die Vorlesungen der Göttinger Philosophen im nächsten Semester Auskunft zu verschaffen. Er schickte mir bald darauf die Druckbogen des neuen Vorlesungsverzeichnisses. Die Weihnachtsferien benützte ich zum Studium der „Logischen Untersuchungen“. Da sie damals vergriffen waren, mußte ich das Exemplar des Philosophischen Seminars benützen und verbrachte dort meine Tage. Professor Hönigswald kam auch öfters hin und fragte mich schließlich einmal, was ich denn die ganzen Ferien durch so eifrig studierte. „So, nichts Geringeres als Husserl!“ war seine Antwort auf meine Auskunft. Jetzt ging das Herz auf. „Im Sommer gehe ich nach Göttingen“, erzählte ich freudestrahlend. „O, wenn man nur selbst schon so weit wäre, etwas in dieser Richtung arbeiten zu können!“ Er war etwas verblüfft. In jenem Winter hielt er zum erstenmal eine Vorlesung über Denkpsychologie; es war der Anfang seiner Auseinandersetzung mit der Phänomenologie, die später in eine scharfe Gegnerschaft ausartete. Damals war seine Ablehnung noch nicht so entschieden; es war ihm aber doch wohl nicht ganz recht, daß eine Schülerin mit fliegenden Fahnen in jene Lager überging. Mir war dieser Gedanke gar nicht gekommen. Bei aller Bewunderung für Hönigswalds Scharfsinn kam es mir nicht in den Sinn, daß er es wagen könnte, sich mit Husserl auf eine Linie zu stellen. Denn davon war ich damals schon überzeugt, daß Husserl der Philosoph unserer Zeit sei. Wenn von da ab in Hönigswalds Seminar die Rede auf Phänomenologie kam, wurde ich als „Sachverständige“ aufgerufen.

Am Sylvesterabend trugen Lilli Platau, Rose und Hede Guttmann eine kleine Scherzdichtung vor. Sie hatten für jeden der Anwesenden eine Strophe mit dem bekannten Refrain: Ist das nicht um Kopf zu stehen? Sie sangen hinter einer Spanischen Wand, über die nur ihre Köpfe hervorragten. Beim Kehrreim verschwanden jedesmal die Köpfe, und es tauchten dafür die Füße auf (tatsächlich ausgestopfte Schuhe und Strümpfe, die sie über die Hände gezogen hatten). Meine Strophe lautete:

Manches Mädchen träumt von Busserl,
Edith aber nur von Husserl.
In Göttingen da wird sie sehn
Den Husserl leibhaft vor sich stehn.

Ich bekam aber auch noch etwas Ernsteres zu hören. In unserer Sylvesterzeitung stand ein Märchen von einem blauen Steinchen, das mir in zarter Symbolik klar machte, wie sehr meine Angehörigen und Freundinnen mein Versinken in der reinen Wissenschaft als menschlichen Verlust empfanden. Lilli hatte es verfaßt.

Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 148. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/163&oldid=- (Version vom 31.7.2018)