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immer gern mitgesungen. Als nun so recht kampfesfroh die Strophe erklang: „Und wenn die Welt voll Teufel war’ / und wollt’ uns gar verschlingen, / so fürchten wir uns nimmermehr, / es muß uns doch gelingen ...“, da war mit einmal mein ganzer Weltschmerz verschwunden. Gewiß – die Welt mochte schlecht sein: aber wenn wir unsere ganze Kraft einsetzen, die kleine Schar von Freunden, auf die ich mich verlassen konnte, und ich – dann würden wir schon mit allen „Teufeln“ fertig werden.


5.

Vier Semester hatte ich an der Universität Breslau studiert. Ich hatte am Leben dieser „alma mater“ wie wohl nur wenige Studenten teilgenommen und es mochte scheinen, als sei ich so mit ihr verwachsen, daß ich mich nicht freiwillig von ihr trennen würde. Aber hier wie später noch oft im Leben konnte ich die scheinbar festesten Bande mit einer leichten Bewegung abstreifen und davonfliegen wie ein Vogel, der der Schlinge entronnen ist. Ich hatte es immer vorgehabt, einmal an einer andern Universität zu studieren. Solange ich aufs Gymnasium ging, war es mein Plan, gleich in meinem ersten Semester mit Erna nach Heidelberg zu gehen, dessen Zauber die alten Studentenlieder so verlockend besangen. Dieser Plan wurde dadurch vereitelt, daß Erna in meinem ersten Semester ihr Physikum machte und nicht von Breslau fortkonnte. Im nächsten Sommer hieß es, sie stünde nun schon zu dicht vor dem Staatsexamen und müßte zu Hause bleiben. Der stärkere Magnet war wohl Hans Biberstein; er hatte den Sommer vor meinem Abitur in Freiburg i.Br. studiert und durfte nicht noch einmal fort. Ich sah nun ein, daß ich mich nicht an meine Schwester binden könnte. Und ich wollte nicht warten, bis auch mich die Examensrücksichten festhielten. In meinem vierten Semester bekam ich den Eindruck, daß Breslau mir nichts mehr zu bieten hätte, und daß ich neue Anregungen brauchte. Objektiv stimmte das keineswegs. Es gab noch genügend unausgenutzte Möglichkeiten, und ich hätte hier noch sehr viel dazu lernen können. Es drängte mich aber fort. Für die Wahl der Hochschule spielte nun die Poesie der Studentenlieder keine Rolle mehr. Etwas ganz anderes bestimmte sie eindeutig. Im Sommer 1912 und im Winter 1912/13 wurden in Sterns Seminar Probleme der Denkpsychologie behandelt, hauptsächlich im Anschluß an die Arbeiten der „Würzburger Schule“ (Külpe, Bühler, Messer u.s.w.). Ich übernahm in beiden Semestern ein Referat. In den Abhandlungen, die ich dafür durchzuarbeiten hatte, fand ich

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Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 146. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/161&oldid=- (Version vom 31.7.2018)