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Die ständige Anspannung aller Kräfte erweckte das beglückende Gefühl eines hochgesteigerten Lebens, ich erschien mir als ein reiches und bevorzugtes Geschöpf. Im Anfang meiner Studienzeit bat mich einmal unser alter Direktor zu sich, um mir eine Stundenschülerin zu empfehlen. Natürlich erkundigte er sich auch, wie es mir gehe, und als ich so recht von Herzen erwiderte: „O, mir geht es sehr gut!“, öffnete er seine großen, runden, etwas vorstehenden Augen noch weiter als gewöhnlich und sagte verwundert: „Nun, das hört man selten“. Zu dieser Hochstimmung stand in merkwürdigem Gegensatz ein Erlebnis, das ich wohl nicht viel später hatte. Ich schlief damals – wie immer bis zu ihrer Verheiratung – mit meiner Schwester Erna in einem Zimmer. Wir hatten noch kein elektrisches Licht im Haus, sondern Gasbeleuchtung; an der Lampe in unserm Schlafzimmer war ein Kleinsteller angebracht, und wir pflegten nachts den Hahn nicht abzudrehen, um jederzeit rasch wieder Licht haben zu können. Eines Morgens öffnete unsere Schwester Frieda die Tür zu unserm Zimmer und stieß einen Schrei des Schreckens aus. Ein starker Gasgeruch strömte ihr entgegen; wir beide lagen totenbleich und wie in schwerer Betäubung in unsern Betten. Die Flamme war ausgegangen und das Gas ausgeströmt. Frieda riß schnell das Fenster auf, drehte den Hahn ab und weckte uns. Ich erwachte aus einem Zustand süßer, traumloser Ruhe, und als ich zu mir kam und die Situation erfaßte, war mein erster Gedanke: „Wie schade! Warum hat man mich nicht für immer in dieser tiefen Ruhe gelassen?“ Ich war selbst ganz betroffen über die Entdeckung, wie wenig ich „am Leben hing“.

Auch aus dem wachen Tagesleben erinnere ich mich an eine Zeit, in der die Sonne erloschen schien. Es war wohl im Sommer 1912, als ich den Tendenzroman „Helmut Harringa“ las. Er schilderte das Studentenleben, den wüsten Betrieb in den Verbindungen mit ihrem unsinnigen Alkoholzwang und die moralischen Verirrungen, die daraus folgen, in den abschreckendsten Farben. Das erfüllte mich mit solchem Ekel, daß ich mich wochenlang nicht davon erholen konnte. Ich hatte alles Vertrauen zu den Menschen verloren, unter denen ich mich täglich bewegte, ging herum wie unter dem Druck einer schweren Last und konnte nicht wieder froh werden. Bezeichnend ist, was mich von dieser Depression heilte. In jenem Jahr wurde in Breslau das große Bachfest gefeiert. Bach war ja mein Liebling, und ich hatte eine Karte für alle Vorstellungen: Orgelkonzert, Kammermusik und einen großen Orchester- und Gesangabend. Ich weiß nicht mehr, welches Oratorium an diesem Abend zur Aufführung kam. Ich weiß nur, daß Luthers Trutzlied „Ein feste Burg ...“ darin vorkam. Ich hatte es in unsern Schulandachten

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Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 145. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/160&oldid=- (Version vom 31.7.2018)