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I
Aus den Erinnerungen meiner Mutter


1.

Der Vater meiner Mutter, Salomon Courant, ist i. J. 1815 geboren. Wo seine Familie herstammt, daran erinnert sich meine Mutter nicht mehr; sie meint, von der französischen Grenze[1]. Später wohnten seine Eltern in Peiskretscham O.S. Er war Seifensieder und „Lichtzieher“. Auf seinen Wanderungen kam er ins Haus meiner Urgroßeltern in Lublinitz O.S. Er sah meine Großmutter, die damals 12 Jahre alt war, und sie gefiel ihm gleich. Von da an kam er jedes Jahr. Als sie 17 Jahre alt war, wurden sie verlobt, und im Jahr darauf war die Hochzeit. Das war das Jahr 1842.

Der Urgroßvater, Joseph Burchard, stammte aus der Provinz Posen, ebenso seine Frau, Ernestine geb. Prager. Im ersten Jahr ihrer Ehe lebten sie in Hundsfeld i.Sch. Als ihr Häuschen dort niederbrannte, gingen sie nach Lublinitz. Der Urgroßvater war viele Jahre Kantor und Vorbeter. Als er diesen Posten aufgeben mußte, richtete er eine Wattefabrik ein. Er hatte einen Beetsaal im eigenen Hause. Dort kamen an den hohen Festtagen alle Schwiegersöhne zum Beten zusammen. Er war ein sehr strenger Vater und Lehrer. Die Enkelsöhne mußten zu ihm kommen, um beten zu lernen. Er schalt viel, schlug aber nie. Und nie ging ein Kind ohne ein Geschenk aus dem Hause. Die Urgroßeltern hatten 11 Kinder, 4 Söhne und 7 Töchter. Vom 70. an wurden die Geburtstage als große Feste gefeiert, zu denen sich möglichst alle Kinder und Enkel einfanden. In einem Tafellied, das ihr Sohn Emanuel zu einer solchen Gelegenheit dichtete, hieß es: „Selten gab’s wohl einen Vater, der seiner Kinder so bedacht, anscheinend rauh und doch voll zarter Sorge über sie gewacht. In den 78 Jahren,/ die Dir heut verflossen sind,/ hast Du Gottes Huld erfahren,/ der Dir gnädig stets gesinnt./ Immer treu steht Dir zur Seite / Großmama in Freud’ und Leide./ Sie schützt Dich und ist auch uns allen so gut,/ vor Unglück und Kummer hält sie uns in Hut“. Dies hat ein Enkelsohn, Jakob Radlauer,


  1. Das ist aber wohl nur eine Vermutung, die durch den französischen Namen nahegelegt wurde. Der kann aber ebensogut von der damals üblichen Münzbezeichnung „Preußisch Courant“ herrühren.
Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 5. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/16&oldid=- (Version vom 31.7.2018)