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zunächst Pech und mußte sie ein zweitesmal machen. Das bedrückte ihn sehr. Bei seiner öffentlichen Promotion war ich zugegen; dabei lernte ich auch seine Eltern kennen und wurde von ihnen freundlich begrüßt, auch von der Mutter, die meinen Einfluß früher so gefürchtet hatte. Als ich später „summa cum laude“ promovierte, schrieb er mir: „Und es kam, wie es kommen mußte“. Zum Kriegsdienst war er untauglich. Er hatte indessen auch Staatsexamen gemacht und trat in den Schuldienst ein. Nach Freiburg bekam ich überraschend die Nachricht, daß er an einer Lungenentzündung gestorben sei.

Meine Angehörigen schickten mir die Todesanzeige und berichteten mir, wie traurig der Anblick der Eltern am Grab des einzigen Kindes gewesen sei. Natürlich schrieb ich ihnen, und später kam mir öfters der Gedanke, ob ich wohl die Mutter einmal aufsuchen solle. Die Erwägung, daß meine spätere Entwicklung ihr wohl ganz unverständlich sei, hielt mich aber immer wieder davon zurück. Ich weiß nicht, wie er selbst sich zu dieser Entwicklung gestellt hätte. Es war schon eine gewisse Entfremdung eingetreten, als ich ins rein wissenschaftliche Fahrwasser einlenkte. Ich hatte ihn in Breslau in die Pädagogische Gruppe eingeführt, und es war ihm schmerzlich, daß die, die ihm die Erziehungsfragen nahe gebracht hatte, nun selbst einen ganz anderen Weg einschlug.


4.

Wenn die vielen allgemein-studentischen Angelegenheiten und freundschaftlichen Beziehungen der Arbeit nicht schadeten, so hatte doch etwas anderes darunter zu leiden: für das Familienleben blieb mir kaum noch Zeit übrig. Meine Angehörigen bekamen mich fast nur noch bei den Mahlzeiten zu sehen – und auch da nicht einmal immer. Kam ich zu Tisch, so waren meine Gedanken meist noch bei der Arbeit, und ich sprach wenig. Meine Mutter pflegte zu sagen, man könne mir auf den Teller legen, was man wolle, ohne daß ich es merkte. Und sie war noch froh darüber, weil sie so wenigstens dafür sorgen konnte, daß etwas Rechtes auf den Teller kam. In späteren Jahren, wenn ihr meine Appetitlosigkeit Kummer machte, dachte sie mit Sehnsucht an diese Zeit zurück. Ich hatte es schwerer als Erna, von meinem Studium zu erzählen. In den Kliniken gab es immer Erlebnisse, für die jedermann Verständnis und Interesse hatte. Aber meine philosophischen Probleme waren nichts für den Familientisch. Meine Mutter kam einmal in mein Arbeitszimmer, während ich gerade mit Plato beschäftigt war. Sie

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Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 143. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/158&oldid=- (Version vom 31.7.2018)