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quälte. Welche Tragik sein Leben verbarg, das fand ich aber erst später heraus. Damals schmeichelte es mir sehr, daß auch dieser vielseitig gebildete Mann danach verlangte, mit mir zusammen zu arbeiten. Er bat mich zunächst darum, ihm als Versuchsperson für seine Arbeit zu dienen. Es handelte sich um „Ausfrageexperimente“ nach der damals vieldiskutierten „Würzbürger Methode“ (Külpe, Bühler, Messer etc.). Wir trafen uns regelmäßig im psychologischen Seminar; aber wir verbrachten mehr Zeit mit Diskussionen über die Methode als mit wirklichen Versuchen. Ich merkte allmählich, daß von der Arbeit noch kaum etwas vorhanden war außer einer Sammlung von Versuchsprotokollen und daß seine eigenen Zweifel an der Tauglichkeit der Methode ihn lähmten und ihm die Weiterarbeit schließlich unmöglich machten. Dabei bedrückte es ihn schwer, daß seine Familie auf die Habilitation wartete und an seine akademische Laufbahn glaubte; daß sein alter Vater im Vertrauen darauf immer noch für ihn sorgte zu einer Zeit, in der andere längst in Amt und Würden sind und eine eigene Familie haben.

Die Pädagogische Gruppe war nicht die einzige akademische Vereinigung, der ich angehörte. In den ersten Semestern war unser ganzes Kleeblatt im Studentinnenverein. Der Charakter der wöchentlichen Vereinsabende war ein überwiegend geselliger. Wir hatten eine kleine Wohnung in der Nähe der Universität, die wir auch tagsüber benützen konnten. Wenn wir abends zusammen waren, kam kurz nach Beginn ein Laufbursche aus einer nahen Konditorei, nahm unsere Bestellungen entgegen und brachte uns das Gewünschte. Dann saßen wir bei Kaffee, Schokolade oder Tee und Torte in kleinen Gruppen und plauderten ungezwungen, berieten uns über unsere Fachangelegenheiten oder sprachen auch alle zusammen über eine allgemein interessierende Frage. Die Vorbereitungen auf ein großes Kostümfest, das der Verein am Ende meines zweiten Semesters gab, führten zu einem sehr kindlichen Konflikt zwischen unserm ganzen Kreis und der Vorsitzenden. Da wir unsere Lehrer und Studiengefährten eingeladen hatten, mußten wir das Fest noch mitmachen. Hinterher aber erklärten wir geschlossen unseren Austritt. Die Freude an dem fröhlichen Abend ließen wir uns übrigens durch den vorausgehenden und nachfolgenden Verdruß nicht stören. Eine ebenso anmutige wie geistvolle Studentin – Ernas Klassengefährtin Else Heß – hatte die Einladung in munteren Versen verfaßt und hielt auch eine „Herrenrede“ in Versen. Aufführungen und Tanz wechselten miteinander ab bis zum Morgen. Herr Dr. Popp war in altdeutschem Kostüm erschienen. Er holte meine Schwester und mich unermüdlich zum Tanz. Gegen sechs Uhr früh begleitete er uns nach Hause. Meine Schwestern gingen voraus, wir folgten in

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Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 134. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/149&oldid=- (Version vom 7.6.2021)