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Jurist im ersten Semester, anvertraut. Sie hatten eine gemeinsame Wohnung und Hermsen hatte ihn überall bei sich; er kam auch mit zu unsern Gruppenveranstaltungen. Später ging er auf das Gut des Grafen Yorck von Wartenburg; er sollte dort die Erziehung eines kranken Knaben übernehmen, aber bald hing die ganze zahlreiche Kinderschar an ihm. Nachdem er in Breslau Doktor- und Staatsexamen gemacht hatte, wurde er als Erzieher des Prinzen von Wied berufen. Von dort aus ging er in den Krieg und kehrte nicht wieder.

Hermsen hatte die Leitung der Gruppe an einen andern abgegeben, als ich eingeführt wurde. Aber er beherrschte sie immer noch. Unwillkürlich sahen alle nach ihm und warteten auf sein Urteil, wenn er anwesend war. Und wenn er nicht kommen konnte, dann fehlte das Beste. Ich glaube, daß seit meiner Kinderzeit kein Mensch mehr einen so starken Einfluß auf mich ausgeübt hatte. Wir sahen uns nur bei den Gruppen Veranstaltungen und sprachen ganz selten einmal persönlich miteinander. Diese wenigen Male sind mir deutlich in Erinnerung. Das erstemal war es in einem Café nach einem Vortrag, den Professor Stern uns gehalten hatte. Wir saßen in größerem Kreis zusammen, Hermsen und ich nebeneinander, Stern uns gegenüber. Am vorausgehenden Gruppenabend hatte ich zum erstenmal in unserm Kreis gesprochen: über Koedukation. (In meinem jugendlichen Idealismus und in meiner Unerfahrenheit, die von den wirklichen Schwierigkeiten noch nichts wußte, hatte ich die Frage positiv beantwortet.) Stern interessierte sich für das Thema, war aber an jenem Abend verhindert. So wollte er sich jetzt erzählen lassen, was ich gesagt hatte. Hermsen und ich antworteten abwechselnd auf seine Fragen. Nach einer Weile mußte der Professor abbrechen, um sich den andern zu widmen, die natürlich auch auf ein paar Worte von ihm warteten. Und nun begann mein Nachbar leise ein vertrauliches Gespräch mit mir. Es handelte sich um ein Mißverständnis zwischen ihm und einem gemeinsamen Bekannten; er hoffe, daß ich Gelegenheit bekäme, zur Aussöhnung zu helfen. Wir waren bald so vertieft, daß wir unsere Umgebung völlig vergaßen und wie aus einem Traum aufwachten, als alles um uns herum aufbrach.

Ein andermal saßen wir auf der Rückfahrt vom Warteberg nebeneinander. Das Rattern des Zuges verbot eine allgemeine Unterhaltung; Hermsen erzählte mir leise von seinen Erfahrungen im Hause Yorck und von seinen Zukunftsplänen.

Kurz ehe wir beide Breslau verließen – ich, um nach Göttingen, er um nach Neuwied zu gehen – lud eine studierende Lehrerin, mit der er viel zusammengearbeitet hatte und die ihn sehr gern

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Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 129. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/144&oldid=- (Version vom 31.7.2018)