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verwalteten das Haus. Die Leiterin, die kleine bescheidene und freundliche Schwester Frieda, führte uns durch alle Räume und gab die nötigen Erklärungen. Die Kinder waren in „Familien“ eingeteilt: Große und Kleine, Jungen und Mädchen gehörten zusammen, wie es in der natürlichen Familie ist. Die Familien hatten Blumennamen, ihre Zimmer waren entsprechend ausgemalt: mit Heckenrosen, Kornblumen u.s.w., und die Mädchen hatten Schleifchen von der passenden Farbe in den Haaren.

In einem Arbeitsraum zeigte uns Schwester Frieda eine Nähmaschine. „Wir brauchten so nötig eine Maschine“, erzählte sie ganz einfach und natürlich, „da haben wir darum gebetet, und bald bekamen wir eine“. Es waren wohl alle Freigeister, zu denen sie das sagte. Aber niemand lächelte. Wir beugten alle den Kopf vor diesem kindlichen Vertrauen. Schwester Frieda ist während des Krieges ohne alle Mittel nach Warschau gegangen und hat dort ein Kinderheim gegründet, um der schrecklichen Kindernot zu wehren.

Nach dem Rundgang durch Haus und Garten wurden wir im kühlen Speisesaal mit Kaffee und Butterbrot und großen Schüsseln voll Erdbeeren aus dem eigenen Garten bewirtet. Zum Abschied sangen uns die Schwestern einen Choral.

Begründer und Seele unserer Pädagogischen Gruppe war Hugo Hermsen, ein Niederdeutscher, aus einer kleinen Stadt in Braunschweig gebürtig. Er war etwa 27 Jahre alt, als ich anfing zu studieren, und stand vor dem Abschluß seiner Studien. Klein, aber kräftig, gesund und sportlich geschult. Ein Kopf, den man nicht leicht wieder vergaß, wenn man ihn einmal gesehen hatte: sonnengebräunt, mit schönen, edlen Zügen; aus den grauen, etwas tiefliegenden Augen leuchtete ein heiliges Feuer. Der weichen, etwas verschleierten Stimme hörte man es an, daß alles, was er sagte, aus dem tiefsten Herzen kam. Einmal nahm er Rose und mich mit zu einem Nestabend bei den Wandervögeln. Er las den Jungen plattdeutsche Märchen vor – die Sprache seiner Heimat. Ich habe besonders das Märchen vom „Machandelboom“ in Erinnerung und glaube noch jetzt – nach mehr als 20 Jahren – die leise und verhaltene Stimme zu hören, mit der er das eingestreute Verschen sang:

Mîn Suster, das Marlencken
Sammelt mîne Bencken
In een sîden Dôk,
Kiwitt, Kiwitt,
Wat forn schoenen Vogel bun ik.

Die moderne Massenerziehung war ihm zuwider. Sein Ideal war die Hofmeistererziehung des 18. Jh.’s. Er suchte es auch praktisch zu verwirklichen. Damals war ihm ein junger Graf Rothschild,

Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 128. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/143&oldid=- (Version vom 31.7.2018)