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der griechischen Sprache gelangt, wie ich sie für das Lateinische hatte. Auch das Studium des Althochdeutschen begannen wir gemeinsam. Tations Evangelienharmonien und etwas später Ulfilas’ Bibelübersetzung vermittelten mir die erste Bekanntschaft mit dem Evangelium (abgesehen von Bruchstücken, die ich in den Schulandachten kennen gelernt hatte). In unserm gotischen Lesebuch stand unter dem gotischen der griechische Urtext. Ich wurde aber damals nicht religiös davon ergriffen. Auch bei Kaethe Scholz habe ich nicht bemerkt, daß die Schrift für sie etwas Heiliges bedeutet hätte. Die Verschiedenheit der Konfession und Abstammung störte unsere Freundschaft nicht und wir hätten über religiöse Fragen ebenso offen wie über andere gesprochen, wenn sie uns bewegt hätten. Eine kleine Verstimmung gab es manchmal bei politischen Gesprächen. Ich stand damals stark unter liberalen Einflüssen. Die schlesische Landbevölkerung war unter dem Druck des beherrschenden Großgrundbesitzes überwiegend preußisch-konservativ. Kaethes Bruder begann damals gerade die Offizierslaufbahn. Dieses Milieu wirkte noch etwas bei ihr nach, obgleich sie viel in anderen Kreisen verkehrte. Später hat sie mancherlei Gesinnungswandlungen durchgemacht. Auch bei mir begann damals eine Veränderung in meinem Verhältnis zum Staat sich anzubahnen. Dazu trug mein Geschichtsstudium bei. Der alte Geheimrat Kaufmann, ein Greis mit schönem schneeweißem Haar und jugendlich-leuchtenden blauen Augen, und der noch ziemlich junge, kleine, aber straffe und schneidige Professor Ziekursel waren national-liberale Politiker. Sie hatten den freudigen Stolz auf das neue Reich, in dem wir alle erzogen waren, aber es war keine blinde Vergötterung des Herrscherhauses und keine Einengung durch den preußischen Gesichtswinkel. Die großzügige Belichtung weltgeschichtlicher Zusammenhänge weckte meine alte Liebe zur Geschichte wieder auf, so daß ich in den ersten Semestern noch schwankte, ob ich nicht sie zu meinem Hauptarbeitsgebiet machen sollte. Diese Liebe zur Geschichte war bei mir keine bloß romantische Versenkung in vergangene Zeiten; mit ihr hing aufs engste zusammen eine leidenschaftliche Teilnahme an dem politischen Geschehen der Gegenwart als der werdenden Geschichte, und beides entsprang wohl einem ungewöhnlich starken sozialen Verantwortungsbewußtsein, einem Gefühl für die Solidarität der Menschheit, aber auch der engeren Gemeinschaften. So sehr mich ein darwinistischer Nationalismus abstieß, so fest war ich doch immer von dem Sinn und der natürlichen wie geschichtlichen Notwendigkeit einzelner Staaten und verschieden gearteter Völker und Nationen überzeugt. Darum konnten sozialistische Auffassungen und andere internationale Bestrebungen niemals Einfluß auf mich gewinnen.

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Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 125. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/140&oldid=- (Version vom 31.7.2018)