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Damit hatte ich ja eine moralische Deckung für mein Lieblingsstudium. Ich behielt anfangs trotzdem die andern Fächer, die ich vorgesehen hatte, alle bei. Nach einigen Semestern sah ich ein, daß 4 Hauptfächer eine zu große Zersplitterung bedeuteten. (Für die Prüfung wurden als Minimum 1-2 verlangt – d.h. ein Fach für die Oberstufe und zwei für die Mittelstufe). Da ich außerdem bemerkte, daß die klassischen Sprachen eigentlich nicht zu trennen waren und daß Latein ohne Griechisch eine halbe Sache sei, entschloß ich mich – nicht ohne Bedauern – das Lateinstudium der Philosophie zu opfern.

Ich trug einmal in der Zeit des Überlegens meine Gründe pro et contra meiner Mutter vor. „Liebes Kind“, sagte sie, „ich kann dir leider darin gar nicht raten. Tu, was du für richtig halst; du wirst es selbst am besten wissen“. Ich wußte auch sonst niemanden, der mir raten konnte. Und so suchte ich mir ganz getrost selbst meinen Weg. Es gibt viele Leute, die mehrere Semester an der Universität verbringen, ehe ihnen klar wird, was sie eigentlich anfangen sollen. Viele wechseln das Studienfach, weil sie merken, daß sie sich auf der Schule über ihre Begabung und Neigung getäuscht haben. Besonders bei Mathematik ist das häufig, weil hier durch bloßen Fleiß ohne die spezifische Veranlagung nichts zu erreichen ist. Manche werden durch diese Unsicherheit sehr entmutigt und kommen vielleicht gar nicht ans Ziel. Am besten sind natürlich die dran, die aus einer Gelehrtenfamilie stammen und vom Vater die rechte Anleitung bekommen. Immerhin, zu der Erkenntnis kommt wohl jeder am Ende seines Studiums: daß er jetzt erst wüßte, wie es anzufangen sei.

Ich litt damals unter meiner Freiheit keineswegs. Ich ließ es mir an der vollbesetzten Tagesordnung wohl sein und schwamm seelenvergnügt wie ein Fisch im klaren Wasser und bei warmem Sonnenschein. Erst lange Jahre später ist mir die Erkenntnis gekommen, welche verhängnisvolle Folgen auch bei mir der Mangel einer sachkundigen Leitung hatte.

Die erwähnte zielbewußte Studiengefährtin lernte ich bald in den ersten Wochen kennen. Sie hatte kein Abitur, sondern Lehrerinnenexamen und zwei Jahre Schulpraxis hinter sich: der sogenannte „4. Weg“ zur Universität, der von der Frauenbewegung als ein Danaergeschenk abgelehnt wurde, weil er keine geeignete Vorbereitung zum Studium war und darum die Gefahr eines ungünstigen Urteils über die Leistungen der studierenden Frauen mit sich brachte. Die meisten Lehrerinnen sahen den Mangel zunächst nicht ein und begrüßten die Erleichterung der Zulassung freudig. Die umsichtigsten aber machten von der Erleichterung keinen Gebrauch, sondern holten das Abitur nach oder suchten sich wenigstens die fehlenden

Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 123. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/138&oldid=- (Version vom 31.7.2018)