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ließ sie eine Klosterschule besuchen und schickte sie schließlich für ein Jahr nach Deutschland; während dieser Zeit gingen sie mit uns in die Viktoriaschule. Alle Verwandten waren entzückt von ihnen.

Sie waren sehr klein und im Verhältnis zu ihrer Größe etwas stark, aber überaus anmutig und liebenswürdig. Am liebsten sahen wir sie in ihren rumänischen Nationalkostümen, deren reiche Stickereien sie selbst angefertigt hatten. Sie ließen sich aber nur sehr selten überreden, sie einmal für ein paar Stunden an einem Festabend anzulegen. Adelheid schloß sich besonders an mich an; obwohl sie in einer viel höheren Klasse war, verbrachten wir regelmäßig die großen Pausen zusammen. In der Zeit, als ich mich für das Gymnasium vorbereitete, waren sie noch einmal für einige Wochen von Rumänien aus als Gäste bei uns im Haus. Später siedelte die ganze Familie nach Berlin über. Es waren noch zwei Söhne nachgeboren: Sigurd und Helmut, bildhübsche und sehr begabte Jungen. Sigurd war jetzt schon 15 Jahre; er rief mich manchmal zu Hilfe, wenn er eine Mathematikaufgabe nicht lösen konnte, und ich freute mich dann immer an seiner raschen Auffassungsgabe. Den Familienvater, meinen Onkel Berthold, hatte ich bisher noch wenig gekannt, da er von Rumänien aus natürlich nicht oft nach Deutschland gekommen war. Er war ein außerordentlich tüchtiger Kaufmann, im persönlichen Verkehr liebenswürdig und humorvoll, etwas an unsern Großvater erinnernd. Er hatte aber in jener großen geschäftlichen Krisis, die seinen ältesten Bruder Jakob das Leben gekostet hatte, eine verhängnisvolle Rolle gespielt. Ich war damals noch zu klein, um in alles eingeweiht zu werden, aber es war eine gewisse Scheu vor ihm in mir zurückgeblieben. Jetzt ging es ihm pekuniär wieder sehr gut. Die Familie bewohnte eine große, elegante Wohnung im Westen Berlins, und der Haushalt wurde nach großem Zuschnitt geführt. Die Töchter aber waren bescheiden und häuslich erzogen und tüchtig zu jeder Arbeit. Leider wurde ich bei meinem nächsten Besuch in Berlin in einen der früher geschilderten Familienkonflikte hineingezogen. Es gab damals eine sehr unangenehme geschäftliche Auseinandersetzung zwischen den Brüdern Berthold und Eugen Courant.

Onkel Eugen war so empört über das Unrecht, das ihm (wirklich oder vermeintlich) geschehen war, daß er mir verbot, bei „B.C.’s“ einen Besuch zu machen. Ich war nur auf der Durchreise in Berlin und hatte nicht viel Zeit. Die Tante fand das Verlangen des Onkels zu weitgehend und erweckte auch in ihm Bedenken. Ich merkte aber daß es ihm ein wohltuendes Vertrauensvotum sein würde, wenn ich zu ihm hielte. Ich dachte an seine Liebe zu meiner Mutter und alles Gute, was er ihr schon getan hatte, und wollte ihm diesen Gefallen tun. Als Martha Courant mich telephonisch begrüßte und

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Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 117. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/132&oldid=- (Version vom 31.7.2018)