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von ihnen es sich abgeschrieben hatte und wieder in seinem Freundeskreis weitergab.

Meine Mulusreise ging also zuerst nach Berlin. Der Lieblingsbruder meiner Mutter, Eugen Courant, feierte am 19. März seinen 50. Geburtstag. Ich fuhr etwas früher hin, zu dem Fest kam meine Mutter mit den andern Töchtern nach. Ich blieb noch einige Zeit dort, weil mein Onkel mit seiner Frau eine Reise nach Italien machte und gern wollte, daß ich mit einem seiner Söhne das Haus hüten sollte. Dieser Vetter, Fritz Courant, war uns von den drei Brüdern der liebste, weil die Familieneigenart bei ihm am stärksten ausgeprägt war. Ihre Mutter übrigens war auch mit uns verwandt: väterlicherseits unsere Cousine. Sie war sonst gegen Gäste wenig liebenswürdig, aber mich hatte sie von Kindheit auf besonders in ihr Herz geschlossen. Als „Anstandsdame“ mußte noch eine ältere Cousine bei uns wohnen; tagsüber war sie nicht zu Hause, weil sie kaufmännische Angestellte war. Ich machte mich über die Überwachung lustig und war zugleich innerlich empört darüber, denn in meinem Tugendstolz fand ich den Gedanken, daß wir einer Aufsicht bedürften, ganz absurd. Mit der Cousine aber vertrug ich mich sehr gut. Mein Vetter Fritz hatte seinen Vater in Geschäft und Fabrik zu vertreten und konnte sich tagsüber auch wenig um mich kümmern. Häusliche Pflichten hatte ich auch nicht. Um Zeitausfüllung aber war ich nicht verlegen. Wir hatten viele Verwandte in Berlin und waren immer nur in Gefahr, jemanden von ihnen zu kränken, wenn wir ihnen nicht genug Zeit widmeten. War man nur wenige Tage dort, so konnte man unmöglich bei allen herumkommen, und dann gab es immer „Beleidigte“. Diese Schwierigkeit hat uns schließlich den Aufenthalt in Berlin ganz verleidet. Diesmal hatte ich drei Wochen Zeit und wurde abwechselnd von allen eingeladen – bald zum Mittag-, bald zum Abendessen oder zu einem Theaterbesuch. Diese Theaterbesuche waren aber wenig nach meinem Geschmack. Man führte mich zu den neuesten Operettenschlagern und Berliner Possen – lauter Sachen, die ich mir aus eigener Wahl niemals angesehen hätte. Der brave Vetter holte mich ab, wo ich auch war, und dann endete der Abend gewöhnlich in einem Café. Von den Berliner Verwandten waren mir die liebsten meine Cousinen Adelheid und Martha Courant, beide um einige Jahre älter als ich. Sie waren in Rumänien aufgewachsen, wo ihr Vater als Holzhändler viele Jahre lang ansässig war. Ihre Mutter stammte aus Galizien; sie war in ihrer Jugend eine bildschöne Frau, ihr Temperament und ihre Lieblingsgewohnheiten stimmten aber wenig zu dem, was man in der Familie Courant schätzte; und die Töchter hatten darunter zu leiden. Mein Onkel legte Wert darauf, sie deutsch zu erziehen. Er

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Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 116. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/131&oldid=- (Version vom 31.7.2018)