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Hause hatte offenbar großen Eindruck auf sie gemacht; jedenfalls wußte ihre Freundin Toni Hamburger aus ihren Erzählungen noch nach Jahren alle Einzelheiten.


5.

Am Morgen nach dem Prüfungstage blieb ich etwas länger als sonst im Bett. Man brachte mir die Post herauf; es waren schon Glückwunschbriefe – auch einer von Onkel David mit der Einladung, nach Chemnitz zu kommen. Ich las und dann lag ich still da und dachte nach. Von dem großen Glücksgefühl, wie ich es nach der Prüfung erwartet hatte, war gar nichts vorhanden, vielmehr eine große innere Leere. Eine liebe und vertraute Lebensweise war für immer vorbei. Was kam nun? Ich erwog die unausgesprochenen Einwände des guten Onkels gegen meine Berufswahl. Hatte ich wirklich die richtige Entscheidung getroffen? Wir sind auf der Welt, um der Menschheit zu dienen ... Das kann man am besten, wenn man das tut, wofür man die geeigneten Anlagen mitbringt... Also ... Der Schluß schien mir einwandfrei. Ich schüttelte alle Zweifel ab und schrieb noch am selben Tage den früher erwähnten entschlossenen Brief nach Chemnitz.

Das Abschiedfest verlief gut bis auf einen kleinen Zwischenfall. Es wurde ein Tischlied gesungen, das eine der Schlechtesten aus der Klasse gedichtet hatte. Es stammte von unserm Sedanausflug und wurde jetzt noch einmal wiederholt. Ein Schultag vom ersten bis zum letzten Glockenschlag wurde darin geschildert; eine Strophe behandelte alle unsere Nebenbeschäftigungen in der englischen oder französischen Stunde. Nach der Tafel war der gute Professor Leugert verschwunden. Niemand hatte gemerkt, daß er ging. Als er vermißt wurde, waren alle sehr bestürzt. „Warum habt ihr mich nicht neben ihn gesetzt?“ sagte ich vorwurfsvoll. „Ich hätte ihn bestimmt nicht gehen lassen“. Mir hatte man unsern früheren Religionslehrer zum Tischnachbarn gegeben. Wir hatten längst keinen Unterricht mehr bei ihm, aber er erkundigte sich immer teilnehmend nach unserm Ergehen, wenn er uns im Schulhaus traf. So hatten wir ihn eingeladen, und er war gekommen. Wir hatten auch, wenn ich mich recht erinnere, aus einem rituellen Restaurant das Essen für ihn kommen lassen. Nach dem Fest machte uns Direktor Roehl Vorwürfe wegen des taktlosen Liedes. Die Klassenälteste Elisabeth Spohr (die schon Lehrerin war, ehe sie zu uns kam) und ich wurden beauftragt, den Gekränkten in seiner Wohnung aufzusuchen und zu versöhnen. Professor Leugert empfing uns mit der gewohnten

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Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 114. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/129&oldid=- (Version vom 31.7.2018)