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erst in einem der Sprechzimmer im Erdgeschoß warten, bis wir in den Prüfungsraum gerufen wurden. Als wir alle, auch ich, ganz in der vorschriftsmäßigen Stimmung hinüberwanderten, sagte Professor Sumpf auf dem Gang mit gutmütigem Lächeln zu mir: „Na, haben Sie große Angst?“ Das klang sehr beruhigend.

Die Prüfungskommission – unsere Lehrer, ein Provinzialschulrat und der zweite Bürgermeister als Vertreter der Stadt – war versammelt. Erst eine feierliche Ansprache – dann wurden die Namen derer genannt, die vom Mündlichen befreit waren; es waren fünf. Wir durften gleich gehen. In unserm Wartezimmer umarmten wir uns gegenseitig – ganz gegen unsere Gewohnheit, denn sonst gab es in der Schule keine Zärtlichkeiten. Wir warteten noch auf die andern, denen der Prüfungsplan bekannt gegeben wurde. Wer später an die Reihe kam, durfte noch einmal nach Hause gehen. Julia Heimann hatte etwa 2 Stunden Zeit. Sie bat mich, sie mit zu mir zu nehmen, denn sie hatte eine Stunde Weg nach Hause, während ich, seit wir in das neugebaute Schulhaus in der Blücherstraße übergesiedelt waren, nur wenige Minuten zu gehen hatte. Daheim erwartete mich schon eine Torte, die in Schokoladenbuchstaben die Glückwünsche der Familie aussprach. Ich konnte mich gar nicht lange den freudigen Begrüßungen meiner Angehörigen überlassen, denn ich mußte mich meinem Gast widmen. Julia hatte verschiedene Wünsche. Ich sollte noch etwas Geschichte mit ihr arbeiten. Außerdem gestand sie mir, daß sie schon lange auf eine Gelegenheit wartete, um mich einmal nach ihrem Geschmack zu frisieren. Ich holte bereitwillig Kamm und Bürste, setzte mich vor den Spiegel, und während sie meinen Kopf bearbeitete, hielt ich ihr den bestellten Vortrag über den dreißigjährigen Krieg. Julia hatte mich früher nicht besucht. Sie sah sich sehr genau bei uns um, und ich hatte fast den Eindruck, als sei sie nicht nur der Zeitersparnis wegen gekommen, sondern auch, um endlich einmal meine häusliche Umgebung kennen zu lernen. Sie äußerte offen ihre Überraschung, in dieser wenig vornehmen Gegend ein so schönes Haus zu finden. Besonders die breite interne Eichentreppe und der „Saal“, in dem ich sie aufnahm, imponierten ihr. Sie ließ es sich auch gut schmecken, als eine meiner Schwestern uns zwei Tassen Schokolade und etwas Gebäck zum zweiten Frühstück heraufbrachte. Während ich mit ihr beschäftigt war, gab meine Mutter die gute Nachricht telephonisch ihren Geschwistern bekannt. Auch der Onkel in Chemnitz hatte sich telephonisch Bericht erbeten. Ich wurde wiederholt gerufen, um persönliche Glückwünsche in Empfang zu nehmen. Als es schließlich für Julia Zeit wurde, begleitete ich sie zur Schule zurück; ich mußte doch auch nach den andern Prüflingen sehen. Der Besuch in unserm

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Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 113. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/128&oldid=- (Version vom 31.7.2018)