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Prüfungen zugelassen wurden. An einen sozialen Beruf dachten wir beide nicht. Im übrigen war das von meiner Mutter nur eine bescheiden geäußerte Anregung. Sie wollte mir ganz freie Hand lassen. „Es hat Dir niemand etwas dreinzureden. Es gibt uns ja auch niemand etwas dazu. Tu, was Du für richtig hältst“. So konnte ich unbekümmert meinen Weg gehen.

Die Klasse, die vor uns Abitur machte, durfte es zum ersten Mal an der eigenen Schule. Damals durfte keiner die mündliche Prüfung erlassen werden, weil es gleichsam eine Prüfung der Anstalt war. Wir hatten daran lebhaften Anteil genommen. Zum Beginn des schriftlichen Examens stifteten wir den Prüflingen eine Torte (das wurde von da ab Tradition), während des „Mündlichen“ fanden wir uns immer wieder in der Schule ein, um uns nach dem Ergehen der einzelnen zu erkundigen, und am Abend überreichten wir jeder ein Veilchensträußchen. Nun waren wir selbst so weit. Für die schriftlichen Arbeiten mußten wir in einen andern Raum übersiedeln. Wir tanzten erst in unserer Klasse kehraus. Es kam die stärkende Torte der Unterprima. Als wir uns ihr gerade widmen wollten, störte uns eine Lehrerin, mit der wir immer etwas auf Kriegsfuß standen; sie gab keinen Unterricht bei uns; aber wenn sie auf unserm Gang Pausenaufsicht hatte, suchte sie uns pflichtgemäß aus unserer Klasse herauszutreiben, während wir immer gerade etwas Dringendes drinnen zu tun hatten. Jetzt ergriff ich schnell die Torte, ging auf sie zu und fragte liebenswürdig: „Dürfen wir Ihnen vielleicht ein Stück anbieten?“ Sie wich erschrocken zurück, verließ die Klasse und ward nicht mehr gesehen.

Es begann mit dem deutschen Aufsatz. Sonst hatte ich bei unsern Klassenaufsätzen immer eine Stunde weniger gebraucht als zur Verfügung stand. Diesmal wurde ich mit der Reinschrift nicht fertig. Das war wahrhaft kein Unglück, denn wir mußten unser Konzept mit abgeben, und das meine sah ganz wie eine Reinschrift aus. Trotzdem war ich am Nachmittag untröstlich. Auch Professor Olbrich war am nächsten Tag etwas besorgt. Er kam während der Lateinarbeit wiederholt zu mir und erkundigte sich, ob ich auch fertig würde. Aber diesmal war ich meiner Sache ganz sicher; ich war mir schon beim Diktieren des Textes klar über die Übersetzung, und das Niederschreiben ging schnell. So ließ ich mich nicht aus der Ruhe bringen. Auch alles andere ging glatt. Bei uns gab es nun Befreiung vom Mündlichen. Die Lehrer durften uns nichts von dem Ergebnis der schriftlichen Arbeiten verraten, aber ihr Verhalten war ziemlich eindeutig. Die nächsten Wochen waren ja nur der Vorbereitung auf die mündliche Prüfung gewidmet, und wer nicht hinein mußte, kam überhaupt nicht mehr dran. Ich merkte wohl, daß ich in

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Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 111. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/126&oldid=- (Version vom 31.7.2018)