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wurde. Er hatte z.B. herausgefunden, daß ich regelmäßig Zeitung las und zog mich heran, wenn Tagesereignisse zur Sprache kamen. Wenn alles das nichts nützte und die Langeweile kommen wollte, nahm auch ich unter der Bank eine andere Arbeit vor. Herr Leugert merkte das wohl und bemühte sich oft, mich auf einer Unaufmerksamkeit zu ertrappen; aber wenn er mich plötzlich anrief, wußte ich immer, wo man stand, und konnte die angemessene Antwort geben. Dann schüttelte er lachend den Kopf, und ich behielt stets meine „Eins“ in Aufmerksamkeit. Eine boshafte Mitschülerin behauptete, er schaue beständig nach mir und lese die Urteile über die Leistungen der andern mir vom Gesicht ab. Eine andere rief mir einmal während des Unterrichts zu, als ich wieder unaufgefordert eine Bemerkung einschob: „Sei nicht so vorlaut!“ Der Professor nickte zustimmend, wenn auch mit gutmütigem Lächeln. Dies erschien mir nun geradezu als Undankbarkeit. Ich fühlte mich als seine einzige zuverlässige Stütze, „Warte“, dachte ich, „Du sollst es einmal spüren, wie es ist, wenn ich nicht ‚vorlaut’ bin“. In der nächsten Stunde saß ich still auf meinem Platz, ohne aufzusehen. So oft ich gefragt wurde, gab ich ruhig Antwort, rührte mich aber von selbst nicht. Als es zur Pause läutete, trat der gute Leugert (wir nannten ihn „Lämmchen“) an mich heran und fragte, was mir fehle: ob ich eine schlechte Arbeit zurückbekommen hätte oder ob mir etwas geschehen sei. Ich antwortete kurz, es fehle mir nichts, und die andern lachten. Er ging nachdenklich zur Klasse hinaus. Ich blieb innerlich beschämt zurück. Von da an war ich wieder wie immer, und beide Teile waren zufrieden.

Geschichte gab uns in Prima Direktor Roehl. Wir fürchteten uns nicht mehr vor ihm wie als Kinder. Er selbst war mit den Jahren milder geworden. Vor allem aber waren wir jetzt schlau genug, um ihn zu behandeln. Wenn wir kein zu großes Pensum aufbekommen wollten, unterbrachen wir seinen Vortrag mit einer Frage über die Sozialdemokratie. Wir wußten, daß der stockkonservative Mann dann kein Ende fand, bis es läutete. Und so behielten wir den Nachmittag frei für andere Arbeiten. Der Geschichtsunterricht war durchaus preußisch-konservativ. Brandenburg - Preußen - das neue Deutsche Reich: das war die glanzvolle Entwicklung, die uns vorgeführt wurde. Der Große Kurfürst, Friedrich der Große, Wilhelm I. waren die großen Männer. Nur könne man nicht wissen, ob Wilhelm II. nicht schließlich noch alle in den Schatten stellen werde! Ich war gegen diese Beleuchtung schon sehr kritisch. Mein Bruder Arno war eifrig liberaler Politiker; zu Hause wurden nur liberale Zeitungen gelesen. Das war ein Gegenwicht gegen den offiziellen Hurra-Patriotismus. Meine Anfechtung war die „Sedanfeier“

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Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 106. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/121&oldid=- (Version vom 31.7.2018)