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Dieser förmliche Antrag kam mir etwas komisch vor, ich willigte aber ohne weiteres darein, sie demnächst zu besuchen. Ich wurde vor allem der Mutter vorgestellt und fand Gnade vor ihren Augen, lernte auch den Vater und das Schwesterchen kennen. Seitdem besuchten wir uns öfters gegenseitig; im nächsten Sommer mußte ich auch mit der ganzen Familie für einige Wochen ins Riesengebirge gehen. Lene Koppel war jünger als ich und noch sehr kindlich. Als Hans Biberstein sie bei uns kennen lernte, prophezeite er mir, ich würde einmal einen Mann heiraten, der mir sehr inferior wäre. (Lene hat später seinen Vetter, Dr. Martin Biberstein, geheiratet, und zwischen beiden Familien besteht jetzt freundschaftlicher Verkehr.)

Ich ließ mich durch seine Neckereien nicht irremachen. Die jüngere Freundin war offen und treuherzig, und sie hing mit aufrichtiger Zuneigung an mir. Sie war auch gut begabt, besonders in den mathematischen Fächern, und eifrig; wenn wir für eine Mathematik- oder Physik-Arbeit zusammen wiederholten, hatten wir beide Nutzen davon. Durch sie bin ich auch in den Literaturzirkel von Fräulein Freyhan hineingekommen, an dem Rose Guttmann und Lilli Platau teilnahmen.

Mit meiner Nachbarin Julia lebte ich in guter Kameradschaft. In den sehr langweiligen Geschichtsstunden bei Professor Scholz (den ich vorhin eine komische Figur nannte) suchten wir uns aus einzelnen Wörtern in unserm Lehrbuch für alte Geschichte das griechische Alphabet zusammen und übten uns gemeinsam darin. Als wir später weiter von einander entfernt saßen, schrieben wir uns während der Stunden kleine Briefchen in griechischen Buchstaben; nach dem Muster des Briefwechsels zwischen Schiller und Körner unterzeichneten wir uns als „Julius“ und „Raphael“. Julias nahe Freundinnen waren Toni Hamburger und Hedi Kopf. Hedi war die Jüngste aus der Klasse, wie Julia aus sehr begütertem Hause; sie machte den Eindruck eines sehr sorgsam behüteten Kindes. Sie gehörte zu den Begabtesten unter uns, besonders in Mathematik; dabei war sie so bescheiden, daß sie trotz ihrer Leistungen niemals als „glänzende“ Schülerin auffiel. Ihr feines und stilles Wesen zog mich sehr an, ich glaube fast, daß ich sie am liebsten von allen Mitschülerinnen hatte. Trotzdem kamen wir außerhalb der Schule nicht zusammen. Es war nicht meine Art, jemanden zuerst zu mir zu bitten, und bei ihr lag es vielleicht an derselben Zurückhaltung. In den Pausen war ich viel mit ihr und ihren Freundinnen zusammen.

Einmal wurde in der Klasse die Frage aufgeworfen (natürlich nicht im Unterricht, sondern unter uns), wer sich entschließen könnte zu heiraten. Hanna und ich erwogen sehr kritisch das Für und Wider. Als die Frage an Hedi kam, sagte sie einfach: „Ja – wenn

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Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 103. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/118&oldid=- (Version vom 31.7.2018)