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meiner Begabung, bei weitem die Beste. Das solle mich aber nun nicht veranlassen, in meinen Anstrengungen nachzulassen. Diese sehr wohlmeinenden, aber in seiner gewöhnlichen rauhen Art vorgebrachten Worte kränkten mich so, daß mir zunächst die Freude an dem guten Zeugnis ganz verdorben war. Vor der Haustür traf ich mit Erna zusammen, die natürlich begierig nach dem Buch griff und sich meine Mißstimmung mit den guten Noten gar nicht zusammenreimen konnte. Ich berichtete, fast weinend, den Vorgang und sagte: „Für was für eine eingebildete Gans muß er mich halten, daß er mir so etwas sagt“. Zu Hause war natürlich helle Freude über den Erfolg; darüber verschmerzte ich die bittere Pille.

Die Klasse, in die ich eintrat, war in keinem guten Zustand. Sie hatte öfters den Lateinlehrer gewechselt und zuletzt einen gehabt, der eine wahrhaft komische Figur war und in keinem seiner zahlreichen Fächer ganz festen Boden unter den Füßen hatte. So fand Professor Olbrich viel zu tadeln und kanzelte manchmal die ganze Gesellschaft gehörig ab. Als ich schon längere Zeit da war, hielt er gern mich den andern als Muster vor; das war mir immer sehr peinlich. Einmal sagte er, es gehöre schon eine große Charakterfestigkeit dazu, um in solcher Umgebung noch etwas zu leisten. Er nannte keinen Namen, aber sofort nach der Stunde wurde ich von den Mitschülerinnen ironisch als „die Charakterfeste“ begrüßt. Ein andermal sagte er in einer andern Klasse: „In der Klasse unter Ihnen kommt erst Fräulein Stein, dann kommt ein großer Abstand und dann kommen die übrigen“. Das wurde natürlich sofort in der ganzen Schule und dadurch auch ziemlich weit in der Stadt verbreitet. Ich ärgerte mich besonders darüber, weil es geeignet war, das gute Einvernehmen mit den Klassengefährtinnen zu stören. Es litt aber nicht ernstlich darunter. Wir waren nicht viele, bis zum Abitur gelangten nur 15. Diese kleine Schar hielt sehr kameradschaftlich zusammen, und ich glaube, ich besaß das Vertrauen aller. Vor jeder Lateinstunde mußte ich vorübersetzen, was wir zu präparieren hatten. Gewöhnlich saß ich dazu auf einem Tisch mitten in der Klasse, die andern auf Tischen und Stühlen dichtgedrängt um mich herum. Manche brachten mir ihre deutschen und manche die französischen Aufsätze zum Durchsehen, ehe sie sie ins Reine schrieben. Als ich fremd in die Klasse kam, hatten wir uns „Sie“ genannt, aber nach kurzer Zeit standen wir alle auf „Du“. Beim ersten Schulausflug bat mich während einer größeren Ruhepause eine Mitschülerin, ein wenig mit ihr allein spazieren zu gehen, und trug mir bei diesem Gespräch unter vier Augen ihre Freundschaft an. Sie gab mir genau an, mit wem sie bisher außerhalb der Schule verkehrt habe; es sei aber keine darunter, die sie ganz befriedige.

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Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 102. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/117&oldid=- (Version vom 31.7.2018)