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Nun meinte sie, wenn ich Ostern nicht aufgenommen würde, dann sollte ich das ganze Unternehmen aufgeben. Was ich gelernt hätte, würde mir auf alle Fälle nützen. Ich könnte z.B. eine Nachmittagsstellung bei Kindern zur Beaufsichtigung der Schularbeiten annehmen, wie es Leni Pick getan hatte. Ich war innerlich ganz fassungslos über das Ansinnen, mich in einen so engen Kreis einsperren zu lassen. Aber das sprach ich nicht aus. Ich lehnte die ganze Fragestellung ab. Dazu war Zeit nach der Prüfung.

Anfang März, bei Semesterschluß, verabschiedete sich Dr. Marek von mir. Er wollte die Ferien in seiner Oberschlesischen Heimat verbringen. Mit dem Pensum waren wir fertig; ich sollte mich während der nächsten Wochen noch allein weiter üben. „Kommen Sie wirklich vor der Prüfung nicht mehr wieder?“, fragte ich ganz erschreckt. Nein, er hätte nicht die Absicht. Es sei ja auch nicht nötig. Ob ich mich denn fürchte? Ja, freilich fürchtete ich mich. Er war höchst erstaunt. „Wovor denn? Die Grammatik beherrschen Sie so sicher wie kaum irgendein Mensch, übersetzen können Sie und Verse lesen auch“. Herr Marek hatte mir nie eine Schmeichelei gesagt. So war mir diese Versicherung wirklich beruhigend.

Ende April kam endlich der gefürchtete Tag. Außer Trudi Mervins und mir war noch eine dritte Kandidatin für die Obersekunda zur Stelle. Wir machten uns miteinander bekannt, während wir in einer leeren Klasse auf den Beginn warteten. Die Fremde versicherte uns, sie wüßte sehr viel, aber man würde ihr wohl zu einfache Fragen stellen, und dann könnte es ihr schlecht gehen. Wir wurden in Latein, Mathematik, Französisch und Englisch schriftlich geprüft. Es dauerte mehrere Stunden. Erna erwartete die Examinatoren, wenn sie aus dem Prüfungsraum kamen, und erkundigte sich nach dem Verlauf. Sie durften ja nicht viel sagen, ließen aber doch merken, daß es gut ging. Gegen Mittag kam auch meine Mutter und wartete mit uns in der Aula auf die Verkündigung des Prüfungsergebnisses. Der Direktor verlas, wer für die einzelnen Klassen – von unten angefangen – aufgenommen war. Für die Obersekunda hatte ich als Einzige bestanden. Trudi Mervins wurde der Vorschlag gemacht, nach Obertertia zu gehen. Sie versuchte es auch, in den ersten Wochen schlüpfte sie noch in den Pausen aus ihrer Klasse zu mir und hängte sich an meinen Arm. Aber sie konnte sich doch nicht eingewöhnen und kehrte zu ihren Eltern zurück. Ich weiß nicht, was aus ihr geworden ist.


Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 99. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/114&oldid=- (Version vom 31.7.2018)