Seite:Edith Stein - Aus dem Leben einer jüdischen Familie.pdf/111

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

begabt wäre, hätten wir unmöglich das schaffen können, was schon erreicht sei. Aber dann kehrte er wohl oder übel zum Unterrichtsstoff zurück. Öfters versicherte er mir, ich müsse unbedingt Mathematik studieren; ich hätte die Begabung dafür, und es sei viel vorteilhafter als alles andere, weil man es nicht nur in der Schule verwenden könne. An was ich denn sonst dächte. Ich sagte kurz, es käme z.B. Medizin in Betracht. Er war ganz verblüfft, er hatte offenbar nur an die philologischen Fächer gedacht. So hatte die Diskussion ein Ende; nur das hatte ich mit dieser Bemerkung erreichen wollen. Eine andere peinliche Untugend war, daß er nicht pünktlich sein konnte. Er kam manchmal eine Stunde zu spät, manchmal auch gar nicht. Wir waren zu strengster Pünktlichkeit erzogen; das war Courantsches Familienerbe. So war mir diese Unverlässigkeit ein Greuel. Jedesmal, wenn er mir zum Abschied die Hand reichte, sagte ich: „Aber, bitte, das nächste Mal recht pünktlich“. Er versprach es ganz treuherzig, aber er besserte sich nicht. Ich hätte mich gern von diesem unangenehmen Lehrer befreit. Aber ich sagte mir, daß ein neuer Wechsel Zeitverlust bedeuten würde, und ertrug das Übel mit Rücksicht auf mein Ziel. Mit Herrn Dr. Marek dagegen war ich restlos zufrieden. Wir sprachen fast nie ein Wort miteinander, das nicht zur Sache gehörte, und es ging unaufhaltsam, ruhig und sicher voran. Nach einigen Wochen sagte er, wenn ich in diesem Tempo weiterarbeitete, könne ich schon Ostern in die Obersekunda eintreten. Es sei ja auch viel angenehmer zum Eingewöhnen, zu Beginn des Schuljahres anzufangen als später mitten hinein zu kommen. Natürlich war ich hocherfreut. Auf die Einwände des Mathematiklehrers wurde keine Rücksicht genommen. Er wurde noch schärfer als bisher angetrieben und mußte sich seufzend dem Schaffenseifer der rastlosen Schülerin anbequemen. Nachdem meine Mutter anfangs einmal mit den Herren gesprochen hatte, machte ich alles Weitere selbst mit ihnen ab. Sie nannten mich „gnädiges Fräulein“ und begegneten mir mit großer Hochachtung. Ich überreichte ihnen auch jeden Monat ihr Honorar. Das war mir immer etwas peinlich, denn mir selbst erschien es als etwas Beschämendes, Geld anzunehmen. Ich suchte das etwas zu mildern, indem ich nach Möglichkeit mir lauter Goldstücke für diesen Zweck geben ließ. Das schien mir etwas würdiger als Silber oder gar Papier. Die beiden Herren haben sicher von solchen Hemmungen nichts empfunden. Sie waren auf diese Einnahme angewiesen; besonders Herr Großmann war gegen Ende des Monats meist in Verlegenheit und mußte sogar manchmal um Vorschuß bitten.

Dieses halbe Jahr rastloser Arbeit ist mir immer als die erste ganz glückliche Zeit meines Lebens in Erinnerung geblieben. Es lag

Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 96. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/111&oldid=- (Version vom 31.7.2018)