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von 15 Jahren berechnet waren. Außerdem waren Max und Else völlig ungläubig, Religion gab es in diesem Hause überhaupt nicht.

Hier habe ich mir auch das Beten ganz bewußt und aus freiem Entschluß abgewöhnt. Über meine Zukunft dachte ich nicht nach, aber ich lebte weiter in der Überzeugung, daß mir etwas Großes bestimmt sei. Meine Cousine Leni, die mit mir zugleich die Schule verließ, begann damals sich durch Privatstunden für eine höhere Gymnasialklasse vorzubereiten. Der Familienrat hatte beschlossen, daß sie Apothekerin werden sollte. Ich erfuhr es – noch in Breslau – durch unsern gemeinsamen Vetter Richard Courant. Lenis Mutter hatte ihn gebeten, die Mathematikstunden zu übernehmen. Er wollte der Tante ungern etwas abschlagen, wollte aber seine Zeit auch nicht für ein aussichtloses Unternehmen opfern. „Wie dumm ist sie denn?“, fragte er mich. Ich sagte, sie sei keineswegs dumm, sondern guter Durchschnitt. Ich bezweifelte aber, ob sie die Ausdauer haben würde, längere Zeit so angespannt zu arbeiten, besonders da der Plan ja nicht von ihr stamme, sondern ihr von außen aufgenötigt sei. „Wenn Du es wolltest, täte ich es natürlich sofort“, meinte er. Nein, ich wollte es nicht (mich aufs Gymnasium vorbereiten). Wenn ich mich recht erinnere, hat er die Aufgabe nicht übernommen; an seiner Stelle wurde Hans Horowitz damit betraut; er war Jurist und kein so erprobter Lehrer wie Richard, aber er hatte ein gutes Abitur gemacht und mußte doch so viel Mathematik und Latein können, wie für die Sekundareife nötig war. Man wandte sich nicht an Fremde, solange in der Familie Hilfe zu finden war. Im Herbst mußte sich Leni zur Aufnahmeprüfung melden und fiel durch. Sie schrieb recht betrübt, als sie mir bald danach nach Hamburg zu meinem Geburtstag gratulierte. Ich antwortete mit einem herzlichen Trostbrief: sie solle über diesen Mißerfolg nicht trauern, vielleicht käme etwas Besseres nach; ich hätte bisher ja noch gar nichts unternommen und sei doch überzeugt, daß noch etwas Rechtes aus mir würde.

Meine Mutter sorgte aus der Ferne, daß es nicht zu einsam für mich würde. Sie veranlaßte meinen ältesten Bruder, seinen Urlaub in Hamburg zu verbringen und gab ihm strenge Weisung, mich zu allen Besichtigungen und Ausflügen mitzunehmen; Else müsse mich dafür freigeben. Das Schönste war eine zweitägige Fahrt nach Helgoland. Bis dahin war ich nicht über Cuxhaven hinausgelangt. Die Fahrt auf der Elbe hatte ich schon öfters gemacht. Diesmal hüllte uns dicker Nebel ein, so daß man von den schönen Ufern gar nichts sah. Alle paar Minuten ertönten die fürchterlichen Sirenen, um vorbeifahrende Schiffe anzukündigen; es war sehr nötig, denn man sah erst, wenn sie ganz nahe waren, gespenstische Umrisse.

Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 91. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/106&oldid=- (Version vom 31.7.2018)