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während der Andacht vorbereiten. Es war mir sehr unangenehm, aber nach echter Schülermoral geht Kameradschaft über alles. Also steckten wir die Köpfe zusammen und ich dozierte im Flüsterton. Leider war eine Lehrerin noch nach uns hereingekommen und hatte uns beobachtet. Was wir sprachen, hatte sie nicht hören können. Aber daß man sprach und sich um die Andacht nicht kümmerte, war ja ein haarsträubendes Verbrechen. Sie stürzte sich auf uns, sobald wir am Schluß zur Türe herauskamen, und hielt uns eine gehörige Standpauke. Da sie in unserer Klasse keinen Unterricht gab, hielt sie es für angemessen, die Sache dem Direktor zu melden. Er hielt uns die zweite Strafpredigt, und trug uns einen Tadel ins Klassenbuch ein. Ich weiß nicht mehr, ob die beiden andern Missetäterinnen auch einen Tadel bekamen oder nur ich als die Hauptrednerin. Jedenfalls meldeten sie sich zum Wort und boten ihre ganze Beredsamkeit auf, um zu beweisen, daß sie allein schuldig seien und daß mir die Strafe erlassen werden müsse. Es half nichts. Der Tadel blieb stehen. Das Lehrerkollegium muß aber doch das Verbrechen nicht für gar so schwer angesehen haben, denn im nächsten Zeugnis stand als Betragensnote: „Sehr gut, bis auf einen Fall“. („Sehr gut“ war bei uns Note 1.)

Von diesem Vorfall mußte ich der sterbenskranken Tante erzählen. Sie lächelte geringschätzig über das Verhalten des Direktors und sagte: „Dummer Kerl!“

Danach habe ich sie nicht mehr gesehen, auch nach ihrem Tode nicht. Ich hatte noch nie eine Leiche gesehen, und meine Mutter wollte es mir ersparen. Aber ich war bei der Beerdigung und nachher im Trauerhause, als alle Verwandten noch einmal dort zusammenkamen. Es war uns immer befremdlich und abstoßend, das man sich bei solchen Gelegenheiten wie bei Festlichkeiten an einer großen Kaffeetafel zusammenfand und sprach, wenn auch die Stimmung ernst und gedrückt blieb.

Als alles vorbei war, wurde die Wohnung geschlossen. Die Zwillinge hatte man bei andern Verwandten untergebracht; dort blieben sie nun in Pension, bis später ihre Eltern aus Oberschlesien nach Breslau zogen. Martha und Heidel kamen zu uns, bis sie in eine neue Wohnung einziehen konnten. Für den Onkel wurde ein Zimmer uns gegenüber gemietet. Verpflegt wurde auch er bei uns. Martha war ganz starr in ihrem Schmerz. Sie konnte weder weinen noch sprechen. Wir bemühten uns alle um die Wette, es ihr bei uns angenehm zu machen. Besonders Frieda konnte sich damals nicht genug tun an Liebesdiensten, bis sich die Erstarrung gelöst hatte. Später führten die beiden Schwestern einen gemeinsamen Haushalt in derselben Gastfreiheit, wie es zu Lebzeiten ihrer Mutter gewesen

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Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 88. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/103&oldid=- (Version vom 31.7.2018)