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in der Kindergesellschaft, was er sagen würde, wenn er mich erblickte; denn es war jedesmal dasselbe: ich hätte einen Christuskopf und Madonnenaugen; und ob sich immer noch kein Bildhauer gefunden hätte, den meine Alabasterfarbe gelockt hätte, mich als Modell zu wählen. Ich konnte mich kaum beherrschen, wenn ich diese Reden über mich ergehen lassen mußte. Sobald wir draußen waren, schüttelte ich mich vor Widerwillen und machte meinem Ärger in boshaften Bemerkungen Luft. Z.B. sagte ich, der Alabaster hätte ja seine Farbe sowieso und brauchte mich nicht dazu. Als ich erwachsen war, regte mein Erscheinen diesen Stammgast zu andern Gesprächen an, die mir nicht minder peinlich waren: er legte mir dann seine philosophischen Probleme vor, und ich fand, daß dazu die Kaffeetafel und der Kreis meiner Verwandten ein sehr ungeeigneter Ort sei.

In ihrer verschlossenen Art hielt meine Tante die Anzeichen ihres Leidens so lange wie möglich geheim. Als die Schmerzen unerträglich wurden, war es schon so weit vorgeschritten, daß keine Rettung mehr möglich war. Ich erinnere mich an meinen letzten Besuch bei ihr. Sie lag im Bett und war so schwach, daß sie sich nicht mehr aufrichten, auch nur mit leiser Stimme sprechen konnte. Ich hatte gar nicht erwartet, daß ich zu ihr ins Zimmer dürfte. Heidel schickte mich aber gleich hinein und gab mir sogar ein Tellerchen mit einer kleinen Stärkung mit, die ich der Kranken löffelweise reichen sollte. Mir war sehr beklommen dabei, denn ich dachte, wie schwer es für diesen stolzen und selbständigen Menschen sein müsse, sich von einem Kinde füttern zu lassen. Sie war das aber schon gewöhnt und ließ es ruhig geschehen. Dann erkundigte sie sich nach meinen Schulangelegenheiten, besonders nach einem peinlichen Ereignis, von dem man ihr erzählt hatte: ich hatte meinen ersten und einzigen Tadel während der ganzen Schulzeit bekommen.

Wir hatten damals Geographieunterricht bei dem strengen und sehr gefürchteten Direktor Röhl. Es war das Fach, das ich am wenigsten gern mochte. Trotzdem hatte es sich als feste Einrichtung eingebürgert, daß ich vor diesen Stunden früh am Morgen für die ganze Klasse an der Landkarte das aufgegebene Pensum vortrug. Der Direktor war allmählich dahintergekommen, hatte aber offenbar nichts dagegen; jedenfalls erkundigte er sich einmal, als eine andere etwas falsch sagte, ganz friedlich bei mir, ob ich denn nicht richtig vorgetragen hätte. Eines Morgens nun kamen meine Cousine Leni und ihre Freundin Johanna sehr spät zur Schule; mein Vortrag war vorbei und es hatte schon zur Morgenandacht geläutet. In ihrer Angst vor dem „Drankommen“ baten mich die beiden, ich sollte mit ihnen in der Aula ganz hinten an der Tür bleiben und sie

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Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 87. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/102&oldid=- (Version vom 31.7.2018)