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Töchtern mitgeteilt habe. Adelheid, die Jüngste – Heidel genannt – wurde von ihrer Mutter am meisten verwöhnt. Im Gegensatz zu den sehr ruhigen Geschwistern war sie übergesprächig und laut, in ihrem ganzen Wesen etwas hemmungslos, aber in ihren kaufmännischen Stellungen tüchtig und gewissenhaft, auch im Haushalt recht geschickt, als sie während der Krankheit der Mutter und nach ihrem Tode dazu herangezogen wurde. In diesem Hause haben Erna und ich oft die Vormittage verbracht, ehe wir zur Schule gingen. Unsere Mutter durfte uns jederzeit hinschicken, wenn sie uns gut aufgehoben wissen wollte. Die Tante ließ uns machen, was wir wollten. Nur wenn wir nicht wußten, was wir anfangen sollten, beschäftigte sie uns. So habe ich hier zum ersten Mal einen Strumpf zum Stopfen in die Hand bekommen. Die Tante zeigte mir, wie es gemacht werden müßte, und überließ mich dann mir selbst. Ich war damals vielleicht fünf Jahre alt. Ich saß auf dem hohen Stuhl und vertiefte mich mit großem Eifer und strenger Amtsmiene in das überaus schwierige Geschäft. Ganz empört war ich, als der große Vetter – er war etwa 20 Jahre älter als ich – hinzukam und sich stellte, als wollte er mir die Arbeit wegreißen. Ich sprang schnell vom Stuhl herunter und wurde ein paarmal um den Tisch herumgejagt, bis die Tante mir mit ein paar energischen Worten zu Hilfe kam. Fritz liebte es, mich zu necken. Er war wortkarg wie seine Mutter und hatte wie sie einen trockenen Humor, der bei ihm aber noch nicht durch manchen seelischen Druck eingedämmt war. Wir sahen ihn später selten. Nach seinem Staatsexamen machte er zunächst einige Reisen als Schiffsarzt und kam uns sehr interessant vor, wenn er sonnengebräunt und mit einer blauen Mütze wieder auftauchte. Dann ließ er sich in einem kleinen Städtchen in Thüringen nieder; es wurde uns erzählt, es sei dort nach seiner Ankunft ein Ausrufer mit einem Glöckchen durch die Straßen gegangen und hätte ausgeschellt, daß ein neuer Arzt eingetroffen sei. Später lebte er in Berlin und kam einigemal im Jahr für ein paar Tage zu seinen Angehörigen. Dann sahen wir uns flüchtig und wechselten ein paar Worte. Er behielt alles, was er in meinen Kinderjahren an mir beobachtet hatte, treu im Gedächtnis, und ich hatte immer das Gefühl, daß etwas von der Zuneigung in ihm weiterlebte, die seine Mutter für mich hatte. Denn ich war ihr erklärter Liebling. Das äußerte sich zwar auch in etwas rauher Weise, war aber unverkennbar. Wenn sie früh ihre Morgeneinkäufe für den Haushalt machte, begegneten wir ihr manchmal, und dann bekam ich fast immer etwas geschenkt. Das war gewöhnlich ein Trost auf meinem Weg zu dem verhaßten Kindergarten. Als ich einmal wieder zwangsweise dahin abgeführt wurde, kaufte sie mir eine ganze große Tüte voll

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Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 85. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/100&oldid=- (Version vom 31.7.2018)