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tatsächlich das erste Ziel seines Lebens die Entwicklung seines Selbst ist. Aber das ist die Art, wie jedermann leben sollte. Selbstsucht heisst nicht: so leben, wie man zu leben wünscht; sie heisst: von andern verlangen, so zu leben, wie man zu leben wünscht. Und Uneigennützigkeit heisst: andrer Menschen Leben in Ruhe lassen, sich nicht hineinmischen. Die Selbstsucht strebt immer danach, um sich herum eine absolute Gleichförmigkeit des Typus zu erzeugen. Die Uneigennützigkeit erblickt in der unendlichen Mannigfaltigkeit des Typus ein köstliches Ding, akzeptiert sie, beruhigt sich dabei und freut sich darüber. Es ist nicht selbstsüchtig, auf seine Art zu denken. Wer nicht auf seine Art denkt, denkt überhaupt nicht. Es ist grobe Selbstsucht, von seinem Mitmenschen zu verlangen, er solle auf dieselbe Art denken und dieselben, Ansichten haben. Warum sollte er? Wenn er denken kann, wird er wahrscheinlich anders denken. Wenn er nicht denken kann, ist es ungeheuerlich, irgendwelche Gedanken von ihm zu verlangen. Eine rote Rose ist nicht selbstsüchtig,

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Oscar Wilde: Drei Essays. Karl Schnabel, Berlin 1904, Seite 88. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Drei_Essays_Oscar_Wilde.pdf/94&oldid=- (Version vom 31.7.2018)