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und sie merken nie, dass sie anderer Leute Gedanken denken, dass sie nach anderer Leute Normen leben, dass sie wahrhaftig anderer Leute abgelegte Kleider tragen und nie einen einzigen Augenblick lang sie selbst sind. „Wer frei sein will,“ sagt ein grosser Denker, „muss Dissident sein.“ Die Autorität aber, die die Menschen dazu bringt, sich zu nivellieren und anzupassen, erzeugt unter uns eine sehr rohe Art satter Barbarei.

Mit der autoritären Gewalt wird die Justiz verschwinden. Das wird ein grosser Gewinn sein – ein Gewinn von wahrhaft unberechenbarem Wert. Wenn man die Geschichte erforscht, nicht in den gereinigten Ausgaben, die für Volksschüler und Gymnasiasten veranstaltet sind, sondern in den echten Quellen aus der jeweiligen Zeit, dann wird man völlig von Ekel erfüllt, nicht wegen der Taten der Verbrecher, sondern wegen der Strafen, die die Guten auferlegt haben; und eine Gemeinschaft wird unendlich mehr durch das gewohnheitsmässige Verhängen von Strafen verroht als durch das gelegentliche Vorkommen

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Oscar Wilde: Drei Essays. Karl Schnabel, Berlin 1904, Seite 40. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Drei_Essays_Oscar_Wilde.pdf/46&oldid=- (Version vom 31.7.2018)