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Walther Kabel: Die kleine Zehe. In: Bibliothek der Unterhaltung und des Wissens, Jahrgang 1913, Bd. 12, S. 236–238

der Dreißiger ihren Höhepunkt erreicht hat: die kleine Zehe ist dann in den weitaus meisten Fällen ein bogenförmig gekrümmtes, völlig plattgequetschtes und halb über die Nachbarzehe hinübergedrücktes Glied geworden, an dessen Spitze nur noch ein winziger Rest von einem Nagel wuchert.

Niemand wird diesem vollständig verbildeten Bestandteil des menschlichen Fußes dann noch ansehen, daß er – was den meisten überhaupt wohl unbekannt sein dürfte – drei Gelenke besitzt im Gegensatz zu der großen Zehe, die nur zweigelenkig ist.

Bereits 1824 stellte der Pariser Anatom Huguet nun fest, daß bei manchen Menschen die kleine Zehe ebenfalls nur zweigelenkig ist. Dieselbe Beobachtung machte auch verschiedentlich der Wiener Professor der Medizin Schennler, der 1854 über diese immerhin auffallende Erscheinung eine Arbeit veröffentlichte, in welcher er die Schuld an dieser Verwachsung des Endgliedes mit dem Mittelgliede dem Druck des Schuhwerkes zuschreibt.

In neuerer Zeit hat man diesem auffälligen Vorgang erhöhte Beachtung geschenkt, und da ist die Wissenschaft an der Hand eines reichlichen Materials, das nicht nur in Kulturländern, sondern auch unter unzivilisierten, festen Schuhwerks ungewohnten Völkerschaften gesammelt worden war, zu erheblich anderen und daher weit interessanteren Schlüssen gekommen. Besonders der Anatom Wilhelm Pfitzner stellte fest, daß diese Umwandlung der kleinen Zehe in ein zweigelenkiges Glied ebenso häufig bei Menschenrassen auftritt, die stets barfuß gehen, bei den malaiischen Völkern, den Negerstämmen Afrikas und den südamerikanischen Indianern, daß mithin der dauernde Druck der festanliegenden Schuhe nicht als Ursache dieser Knochenverwachsung angesehen werden könne. Dagegen spricht nach Pfitzner auch das gesunde Aussehen der verwachsenen Knochenteile, sodann aber auch die Tatsache, daß zweigelenkige kleine Zehen schon bei Kindern im zartesten Alter ebenso häufig wie bei älteren Personen angetroffen werden. Ferner ist statistisch nachgewiesen – und dies ist von größter Wichtigkeit –, daß die Zahl der Menschen mit zweigelenkigen Zehen in den letzten fünfzig Jahren erheblich zugenommen hat.

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Walther Kabel: Die kleine Zehe. In: Bibliothek der Unterhaltung und des Wissens, Jahrgang 1913, Bd. 12, S. 236–238. Union Deutsche Verlagsgesellschaft, Stuttgart, Berlin, Leipzig 1913, Seite 237. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_kleine_Zehe.pdf/3&oldid=- (Version vom 31.7.2018)