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Walther Kabel: Die gelbe Gefahr (Reclams Universum, Jahrgang 33)

meinen Kleidern, sah über dem in allen Farben schillernden Waldboden die heiße Luft flimmern und beeilte daher meine Schritte, um schneller das jenseitige schützende Laubdach zu erreichen.“

Körber schwieg eine Weile, um dann mit erhobener Stimme fortzufahren: „Da – ich befand mich vielleicht in der Mitte der Lichtung – ertönte plötzlich hinter mir ein – ja, wie soll ich sagen – ein Schreien, ein Geheul, das mir durch Mark und Bein ging. Es war ein an- und abschwellendes, langgezogenes Hui … i … i … i … hu … hu …, das in dumpfem, gräßlichem Grollen ausklang. Unwillkürlich stockte mein Fuß, blitzschnell fuhr ich herum und schaute zurück. Und da … da sah ich auf dem von niederem Gesträuch umgebenen Pfade zwischen zwei besonders hohen Farnkrautbüscheln einen rötlichgelben Tierkopf erscheinen – ich sah trotz der weiten Entfernung auch, daß das Gesicht des Tieres mit dunkleren Flecken und Streifen gezeichnet war. – Anfänglich dachte ich an einen Hund, der sich wildernd in dem Forst umhertrieb. Ich hatte schon öfter solche herrenlose Köter angetroffen, die von jedem Förster erbarmungslos niedergeschossen werden, da sie mehr Schaden in dem Wildbestand anrichten als das eigentliche Raubzeug: Füchse, Marder usw. Nun glaubte ich mir auch das eigenartige Geheul erklären zu können, das aber auch für einen verwilderten Hund merkwürdig genug blieb. Und doch … plötzlich merkte ich etwas an mir wie eine leichte Unruhe, ich spürte mein Herz schneller schlagen; wie die Ahnung einer mir drohenden Gefahr kam es über mich, und ängstlich spähend blickte ich zwischen den Blättern der Buchenstämmchen hindurch, die mich halb verbargen. Dann sehe ich, wie sich dem Kopfe des angeblichen Hundes vorsichtig ein langer Körper nachschiebt, viel zu lang für ein Tier der Gattung Canis familiaris, sehe eine weißlichgelbe Kehle und Vorderbrust … Meine Augen starren noch hinüber – da tritt das Tier auf den kahlen Weg aus dem Gestrüpp hervor – mein Herzschlag droht zu stocken, eine Eiseskälte läuft mir über den Rücken … denn keine 300 Meter vor mir steht … ein ausgewachsenes Exemplar der Gattung Felis leo … ein mächtiger Leopard …“

Hier ließ der Oberförster ein leises Räuspern hören. Körber unterbrach seine Erzählung, nahm den Hut ab und betupfte die feuchte Stirn mit dem Taschentuch. Die Erinnerung ging ihm augenscheinlich sehr nahe. Dann wandte er sich mit großer Ruhe an den alten Weidmann, um dessen Augen sich jetzt die kleinen Fältchen in ironischem Lächeln vertieft hatten.

„Sie hegen Zweifel an der Wahrheit meines Erlebnisses, Herr Oberförster? … Das sollte doch wohl Ihr Räuspern ausdrucken?“ meinte der Assessor unbefangen.

„Ehrlich gesagt … ja! Denn ein Leopard in …“

„Die Sache findet später eine sehr einfache Erklärung,“ fiel ihm Körber ins Wort. „Hören Sie nur weiter. Wenn ich über die Natur des Tieres überhaupt noch im unklaren sein konnte, so brachten mir schon die nächsten Sekunden volle Gewißheit. Denn langsam, den Kopf gesenkt, begann der gelbe Körper vorwärts zu schleichen; es war das für alle Katzenarten so charakteristische Winden und Drehen der geschmeidigen Glieder, dieses heimtückische, vorsichtige, unhörbare Gleiten, wie man es bei jeder einen armen Sperling beschleichenden Hauskatze beobachten kann. Über die folgenden Minuten habe ich mir nie recht klarwerden können. Ich weiß nur noch, daß ich mit Riesensätzen dem Walde zustürmte – daß ich auf dieser wahnsinnigen Flucht plötzlich an eine alte Buche dachte, die etwas rechts von mir am Rande der Lichtung stand und die ich einmal auf einem früheren Spaziergange unter großen Schwierigkeiten erklettert hatte, um mir eine gut zweiundeinhalb Meter vom Boden entfernte Öffnung anzusehen, da ich vermutete, daß die Buche trotz ihres üppigen Blätterschmucks vollständig ausgefault sei – was sich dann auch bestätigte. Und dieser hohle Baum sollte mir jetzt – leichtsinnige Hoffnung – Rettung bringen! Ohne mich umzuschauen, flog ich über Gestrüpp, Baumstümpfe, Gräben dahin; mein Hut fiel mir vom Kopf – ich achtete nicht darauf, hielt nur krampfhaft meinen Stockdegen, meine einzige Waffe, fest … Keuchend stand ich endlich unter der Buche, wagte einen Blick nach rückwärts und – atmete auf; von dem Raubtier war nichts zu sehen – friedlich lag die sonndurchleuchtete Lichtung vor mir mit ihren bunten Farben, den hellgrünen Buchenschößlingen, den graubraunen, wehenden Farnkräutern und dem mannigfach schillernden Erdboden, über dem die Zitronenfalter auf und ab schwebten in graziösem Spiel. Ich wurde ruhiger, trotzdem mein Atem flog und alle Muskeln meines Körpers von der übergroßen Anstrengung des langen Galopps zitterten. Da sah ich kaum fünf Schritt seitwärts einen Haufen von aufgeschichteten, zerspaltenen Eichenkloben, sah ganz oben ein handliches Stück liegen, das mit seinen scharfen Kanten eine gefährliche Keule abgab. Es holen und mit gutgezieltem Wurf in das breite Loch des Stammes hineinschleudern, war eins. Dann nahm ich meinen Stock zwischen die Zähne, kletterte an der mit Auswüchsen reichlich versehenen Buche empor, streckte die Beine in die Höhlung, rutschte mit dem Körper nach, fand einen Stützpunkt für meine Füße und … stand nun bis zur halben Brust in dem Baume und hatte meinen haarscharfen Stockdegen und die schwere eichene Keule als Waffen.

Da kam eine fast unnatürliche Ruhe über mich; meine Gedanken arbeiteten wieder logisch, ich erwog die Chancen meiner Verteidigungsstellung, und sie waren nicht schlecht. Im Rücken hatte ich Deckung; um mich zu erreichen, mußte das Raubtier erst einen über zwei Meter hohen Sprung wagen – ich war nicht ohne Abwehrmittel; mit Degen und Keule glaubte ich den Eingang zu meinem Schlupfwinkel wohl verteidigen zu können! – Nun traf ich meine Zurüstungen. Ich bückte mich vorsichtig und tastete nach meinem Eichenknüttel, den ich auch fand und nun so in der Höhlung festklemmte, daß er mir gut zur Hand war. Dann schraubte ich die Krücke meines Stockes ab, zog den Degen heraus und ließ die überflüssige Holzhülle in den Stamm hinabgleiten. Bei dem Anblick des blanken Stahles – es war eine Solinger Klinge – verschwand auch der letzte Rest von Aufregung. Ruhig untersuchte ich meine Festung, maß mit den Augen nochmals die Entfernung zum Erdboden und überlegte mir die beste Art und Weise der Verteidigung. Schließlich wagte ich auch nach einiger Zeit mich vorzubeugen und Umschau zu halten. Schnell fuhr ich aber zurück – denn unter mir am Fuße der Buche stand der Leopard, und seine grünlich schimmernden Augen waren gerade auf mich gerichtet … Wieder begann mir das Herz in der Brust zu jagen, ich fühlte den kalten Schweiß auf der Stirn, meine Hand, die den Stockdegen hielt, zitterte kraftlos … Aber mit übermenschlicher Energie zwang ich mich zur Ruhe; blitzschnell erwog ich nochmals meine Aussichten auf Rettung; die Gedanken stürmten … langsam klärten sie sich, der Wille siegte über die augenblickliche Nervenschwäche. Vorsichtig schaute ich wieder hinab. Der Leopard stand jetzt vielleicht fünf Schritt von dem Baum entfernt und … jetzt, als er mich erblickte, duckte er sich, zog die Hinterpranken an, der Körper krümmte sich zusammen, die Augenlider sanken halb über die phosphoreszierenden Pupillen herab … Ich wußte, im nächsten Moment würde das Raubtier anspringen – ich erhob schnell die Eichenkeule,

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Walther Kabel: Die gelbe Gefahr (Reclams Universum, Jahrgang 33). Phillip Reclam jun., Leipzig 1917, Seite 628. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_gelbe_Gefahr.pdf/3&oldid=- (Version vom 31.7.2018)