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Tizian’s; weht doch der hohe Geist Tizians uns noch immer frisch selbst aus dieser Ruine entgegen![1]

Und nun wollen wir die übrigen der Pinakothek gehörigen Werke des großen Cadoriners, darunter mehrere sehr werthvolle, einer näheren Betrachtung unterziehen.

Herr Marggraff läßt Tizian um 1477 auf die Welt kommen, ihn zuerst bei Gentile, dann bei Giovanni Bellini in die Schule gehen, und sich später unter dem Einflusse seines frühreifen Altersgenossen und Freundes Giorgione ausbilden. Diesen Angaben kann ich beistimmen, nur möchte ich den Giovanni Bellini weglassen. Denn, so wenig mich auch der moralische Charakter Tizian’s anspricht, so würde es mir doch schwer fallen, anzunehmen, daß der alte Bellini, dem der junge Tizian 1513 durch allerlei Intriguen habgierig seine Pension vom Salzamte wegschnappte, je sein Lehrer gewesen sei. Ob Tizian die Anfangsgründe seiner Kunst von Antonio Rosso, von Sebastiano Zuccato, von Gentile oder Giovanni Bellini erlernt hat, ist im Uebrigen keine Frage von großer historischer Bedeutung. Das, was nicht in Abrede gestellt werden kann, ist, daß in seinen Jugendwerken die Einflüsse von Giorgione so deutlich hervortreten, daß gar manches Bild Tizian’s aus jener Zeit (1504–1512) als Werk seines Lehrers und Vorbildes, des Giorgione, angesehen worden ist.[2]

Im Jahre 1505 erscheint Tizian noch als Gehilfe des Giorgione, und durch den Anonymus des Morelli erfahren


  1. Aus dieser nämlichen Epoche erscheint mir auch das Bild in der Doriagalerie zu Rom, die Herodias, daselbst dem Giorgione zugetheilt, von den Herren Cr. u. Cav. aber, consequent in ihrem Urtheile, dem Pordenone gegeben.
  2. So das „Concert“ im Louvre, die „Venus“ in der Dresdner Galerie, die Madonna mit dem Heiligen Rochus und Antonius im Madrider Museum (von den Herren Cr. u. Cav. dem Francesco Vecelli zugeschrieben) und anderes mehr. – Im Leben Tizian’s (Band I) behaupten [43] aber die Herren Cr. u. Cav., daß das liebenswürdige Madonnenbild, 41, in der Belvederegalerie zu Wien, noch im XV. Jahrhundert von Tizian gemalt worden sei, und sehen darin etwas, was sie an die Bellini, an Carpaccio und sogar an Palma vecchio (!) erinnere; sie rühmen darin besonders den schönen landschaftlichen Grund. Aber gerade dieser landschaftliche Hintergrund hätte sie, meine ich, belehren sollen, daß das Bild um 6 bis 8 Jahre jünger sein müsse, als sie dafürhalten. Man vergleiche jene freibehandelte Landschaft mit den landschaftlichen Gründen in den Bildern des Giovanni Bellini, des Cima, des Basaïti, des Previtali, und man wird sich leicht von dem Irrthume überzeugen, dem sich die Herren Cr. u. Cav. überließen.
Empfohlene Zitierweise:
Giovanni Morelli (Pseudonym Ivan Lermolieff): Die Werke italienischer Meister in den Galerien von München, Dresden und Berlin. Verlag von E. A. Seemann, Leipzig 1880, Seite 42. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Werke_italienischer_Meister_(Morelli).pdf/61&oldid=- (Version vom 31.7.2018)