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im Kloster von S. Giovanni e Paolo, aufgehalten zu haben. Im Gegensatze zu seinem seelenverwandten Zeitgenossen Correggio, hat Lotto fast ausschließlich nur religiöse Gegenstände zu seinen Darstellungen gewählt; den s. g. Sieg der Keuschheit (Galerie Rospigliosi zu Rom) und den kleinen Faun dieser Sammlung ausgenommen, kenne ich von Lotto keine Darstellung aus der griechischen Mythologie. Seine Männer- und Frauenbildnisse aber dürften ohne Scheu den besten Porträts seiner Zeitgenossen die Seite gestellt werden; die besten derselben befinden sich in Rom, in der Breragalerie, in der Nationalgalerie zu London, bei Herrn, Holford und in Hamptoncourt, im Museum von Madrid, und ein sehr feines in der Belvederegalerie zu Wien.[1]

Tizian, der Lotto’s Altersgenosse sein mochte, scheint große Stücke auf ihn gehalten zu haben. So schrieb


  1. Dieses Porträt der Belvederegalerie ging früher unter dem Namen Tizian’s, dem es noch der verstorbene Direktor Waagen zuschrieb. In neuerer Zeit wurde es dem Tizian genommen und dem Correggio gegeben. Es stellt einen jungen Edelmann in venezianischer Tracht vor, Kniestück; das Gesicht ist edel, blaß, Haare und Bart hellbraun, die Augen bläulich. In der linken Hand hält er eine goldene Vogelkralle. Der Kopf ist, wie bei allen Bildnissen des Lotto, durchgeistigt, vornehm fein; die Hände weiß und zart in den Fleischtönen mit den ihm charakteristischen grünlichen Schatten. Dieses Porträt soll, nach dem Kataloge des Herrn von Engerth, den bolognesischen Naturforscher Ulysses Aldrovandi, 1522 geboren, vorstellen, was auf jeden Fall ein Irrthum ist, [39] da Correggio starb, als Aldrovandi kaum zwölf Jahre zählte. Ein gutes Caracci’sches Porträt des Aldrovandi sieht man in der Stadtgalerie von Bergamo, und dieses hat auch nicht die entfernteste Aehnlichkeit mit dem Lotto’schen Porträt in Wien. – Die Bildnisse des L. Lotto tragen aber nicht nur in Wien den Namen des Correggio, auch in der Sammlung Hamptoncourt bei London hat die nämliche Verwechslung stattgehabt. Die bessern Lotto’schen Porträts haben alle jene feine, innere, von der Empfindung herrührende Eleganz, welche den Gipfelpunkt der letzten Epoche der aufsteigenden Kunst in Italien kennzeichnet und welche namentlich von Leonardo da Vinci, Lorenzo Lotto, Andrea del Sarto und Correggio repräsentirt wird; während die Eleganz des Bronzino in Toscana und des Parmeggianino in Oberitalien eine äußere, angeeignete, von dem innern Leben der dargestellten Person unabhängige ist, und welche folglich schon das erste Stadium der abwärtssteigenden Kunst charakterisirt. Wie schon bemerkt, hat diese Eleganz der Empfindung bei Lotto, wie auch bei Correggio, etwas nervöses, kränkliches an sich. Die Naturen dieser beiden Künstler standen sich sehr nahe; beide waren in sich gekehrte, die Einsamkeit liebende Gemüther. L. Lotto brachte die größte Zeit seines langen Lebens in der Stille der Klosterzelle, in der Gesellschaft von Dominicanermönchen zu. Weder er noch Correggio haben je um die Gunst und Gnade der Mächtigen und s. g. Glücklichen der Welt gebuhlt. Auch sind ihre Darstellungen für die Zeit, in der sie lebten, und für die Schulen, denen beide entstammten, die am wenigsten realistischen.
Empfohlene Zitierweise:
Giovanni Morelli (Pseudonym Ivan Lermolieff): Die Werke italienischer Meister in den Galerien von München, Dresden und Berlin. Verlag von E. A. Seemann, Leipzig 1880, Seite 38. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Werke_italienischer_Meister_(Morelli).pdf/57&oldid=- (Version vom 31.7.2018)