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es dient auch dazu, uns die Merkmale der einzelnen Kunstschulen schärfer einzuprägen, die eine von der andern schärfer unterscheiden zu lernen. Denn viel klarer, als in den Gemälden, erkennt man in den Handzeichnungen die geistigen und materiellen Familienzüge der einzelnen Meister und Schulen, z. B. in der Art wie sie die Falten zu legen, die Schatten und Lichter anzugeben pflegen, oder an dem Umstande ob sie der Feder oder der schwarzen Kreide, dieser oder dem Röthel den Vorzug geben u. s. w.

Ich erachtete es daher für gut, jenen jungen Kunstbeflissenen, die Willens wären, die von mir gemachten Studien selbst vorzunehmen, gelegentlich diese oder jene besonders charakteristische Handzeichnung zu bezeichnen und ihnen die Anschaffung der Photographie derselben anzurathen. Sie würden sich so auf wohlfeile Art die ergiebigste Quelle für ein ernstes Studium der alten Meister bilden. Freilich muß dabei eine gewisse Vertrautheit mit den ausgeführten, sei es gemalten, sei es gemeißelten Werken der großen Meister selbst voraus gesetzt werden; – einem Anfänger würden Handzeichnungen nur den Kopf verwirren. Den Genuß aber, den ein solches Studium dem schon geübten Auge darbietet, rechne ich zu den reinsten, die dem Menschen auf Erden beschieden sind.


 

Empfohlene Zitierweise:
Giovanni Morelli (Pseudonym Ivan Lermolieff): Die Werke italienischer Meister in den Galerien von München, Dresden und Berlin. Verlag von E. A. Seemann, Leipzig 1880, Seite 9. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Werke_italienischer_Meister_(Morelli).pdf/28&oldid=- (Version vom 31.7.2018)