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Giovanni Morelli (Pseudonym Ivan Lermolieff): Die Werke italienischer Meister in den Galerien von München, Dresden und Berlin

Aber mein Freund ließ sich nicht abweisen. Lächerlich ist nur der Zwerg, der sich duckt, wenn er unterm Stadtthor durchgeht, sagte er mit väterlichem Wohlwollen, du aber willst doch kein Riese sein und geberdest dich ja auch nicht als ein solcher. Es mag vielleicht wahr sein, was du mir da entgegnest, daß man im gelehrten Deutschland, in Frankreich und England alles das schon längst und viel besser wisse, so daß die grundgelehrten Herren in jenen Ländern auf deine kritischen Studien vielleicht mit mitleidigem Lächeln herabsehen werden. Aber darüber beruhige dich, denn jene Herren werden dein Buch kaum lesen. Du widmest es vielmehr deinen jungen Landsleuten, welche, ehe sie sich an’s Studium der Kunstgeschichte selbst machen, vorerst die Grammatik der Kunstsprache zu erlernen haben. Solchen jungen, noch unerfahrenen und unverdorbenen Leuten werden gewiß diese von dir, wie ich sehe, mit so vielem Eifer und Ernste gemachten Vorstudien von einigem Nutzen sein können. Muß doch in allen Zweigen menschlichen Wissens die Praxis mit der Theorie Hand in Hand gehen, ja diese aus jener sich herausbilden. Hingegen die Dinge, welche wir mit Vorurtheilen betrachten, sehen wir entweder gar nicht, oder aber in einem falschen Lichte. Ehe man also sich unterfangen darf, die Geschichte irgend einer Kunstschule in ihrem ganzen Umfange erfassen zu wollen, muß man doch gelernt haben, wie man das einzelne Kunstwerk anzusehen habe, um vorerst sagen zu können, ob es überhaupt echt oder unecht, ob in diesem oder jenem Lande entstanden, ob zu dieser oder jener Schule gehörig sei und endlich, ob es von diesem oder jenem Meister herrühre. Das, was in einem Kunstwerke uns vor allem interessirt und packt, ist schließlich der Mensch selbst, der darin steckt. – Diese und ähnliche Zureden meines Petersburger Freundes vermochten indeß nicht, mich zu überzeugen, daß eine solche Publikation von Nutzen sein könnte. Auch verließ ich bald die Residenz, um mich auf ein Landgut, Gorlaw, in der Nähe von Casan, wo man mich schon längst erwartete, zurückzuziehen.

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Giovanni Morelli (Pseudonym Ivan Lermolieff): Die Werke italienischer Meister in den Galerien von München, Dresden und Berlin. Verlag von E. A. Seemann, Leipzig 1880, Seite XII. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Werke_italienischer_Meister_(Morelli).pdf/12&oldid=- (Version vom 31.7.2018)