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Lehrer kann Masaccio angesehen werden, dessen epochemachende Fresken in der Kirche des Karmeliterklosters zu Florenz das Vorbild waren, an dem sich der junge Mönch Filippo heranbildete. Und in der That erinnert sowohl die Modellirung der Köpfe wie auch die Form der Hände in den Jugendwerken des Fra Filippo durchaus an Masaccio. Sein Hauptwerk sind die Fresken im Chore der Kathedrale von Prato. In denselben hat er auf der einen Wand das Leben und den Märtyrertod des h. Stephanus, auf der andern des h. Johannes des Täufers, dargestellt. Diese herrlichen Gemälde wurden 1456 begonnen und 1464 vollendet; sie sind also in der nämlichen Zeit ausgeführt wie die ebenso berühmten Wandgemälde des Mantegna in der Cappella degli Eremitani zu Padua. Wer das Streben und das künstlerische Vermögen jener Kunstepoche in seinen höchsten Aeußerungen kennen lernen will, der studire diese beiden Wandmalereien und halte dann das Werk des Florentiners gegen das Werk des Paduaner’s. Was uns in den Darstellungen beider Maler vor allem fesselt, ist der Charakter ihrer Kunst. Reißt uns nun Fra Filippo durch großartigere Auffassung und durch rein dramatische Lebendigkeit fort, so fesselt uns andererseits Mantegna durch größere Evidenz der Darstellung und durch die Vollkommenheit der Ausführung. Beide Werke gehören zum Höchsten, was in der Kunst des 15. Jahrhunderts in Italien hervorgebracht worden ist.

Die Münchener Galerie besitzt zwei Bilder von Fra Filippo; das eine derselben hängt im Saale 9 (No. 554) und stellt die „Verkündigung“ dar; das andere, eine sitzende Madonna mit dem Jesuskinde auf dem Schooße, ist im Cabinet 20 (No. 1169) aufgestellt. Das erstere ist ein gutes Specimen des Meisters, hängt aber zu hoch für den Beschauer; Fra Filippo hat denselben Gegenstand mehrere Male behandelt (Kirche von S. Lorenzo zu Florenz, Galerie Doria zu Rom). Die dramatische Charakteristik, die

Empfohlene Zitierweise:
Giovanni Morelli (Pseudonym Ivan Lermolieff): Die Werke italienischer Meister in den Galerien von München, Dresden und Berlin. Verlag von E. A. Seemann, Leipzig 1880, Seite 82. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Werke_italienischer_Meister_(Morelli).pdf/101&oldid=- (Version vom 31.7.2018)