Seite:Die Sage-Karl Wehrhan-1908.djvu/98

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

der Johannisnacht macht nicht nur unsichtbar, wenn man ihn an sich trägt, er macht auch stich- und hiebfest, hilft dem Jäger zu sicherem Schuß, sichert die Hilfe des Teufels. Aus Nesseln wird das zauberhafte Nesselhemd gefertigt.

Andere Sagen gibt es noch von dem Veilchen, den Disteln, der Alpenrose, der Johannisblume (Chrysanthemum leucanthemum) usw.

Bäume haben seit jeher in der Volkssage eine wichtige Stellung. Schon die älteste Sage unseres Volkes erzählt von der Weltesche Yggdrasil. Die Sagen mancher Völker berichten von der Schöpfung der ersten Menschen aus Bäumen (Hochland von Iran; Phrygier). Der Glaube an Baum- und Waldgeister ist wohl überall zu finden[1]. Noch heute sagt man von verletzten Bäumen, daß sie „bluten“. Märchen und Sagen erzählen von der Unverletzlichkeit einzelner Bäume: Als ein Mann einen Nußzweig abbrach, stand ein Ungeheuer vor ihm, dem er das Beste geben mußte, was er zu Hause hatte, seine geliebte Tochter. Die heiligen Haine unserer Vorfahren galten als ebenso unverletzlich. Der Wald selbst gilt als lebendes Wesen, daher die weitverbreitete, durch Shakespeares Macbeth bekannt gewordene Sage vom wandelnden Walde. Noch im 18. Jahrhundert entstand die Sage, der als Hexenmeister angesehene Zieten habe aus List, um den Feind zu täuschen, sein Heer in einen Wald verwandelt. Die Sage von der Eichelsaat ist weitverbreitet; sie hat Ähnlichkeit mit der Sage von der Weibertreue, denn sie schildert uns auch, wie ein siegreicher Eroberer hintergangen wird: Bei der Übergabe wird der Sieger gebeten, doch großmütig noch eine einzige Saat zu gestatten, nach deren Abernten alles ihm gehören solle. Man säet Eicheln, und bis diese geerntet werden können, sind mehrere Geschlechter dahingegangen. Ebenso wird in der Volkssage z. B. die Entstehung des Rintelnschen Hagens an der lippischen Grenze, die eines Eichwaldes bei Geseke u. a. an vielen anderen Orten erklärt. Andere Sagen erzählen von einem noch jungen Baume, aus dessen Holz einstens eine Wiege gezimmert wird, in welcher derjenige ruht, der irgend eine


  1. Vgl. Mannhardt, Wilhelm, Wald- u. Feldkulte. 2 Bde. Berlin 1875. 1877.
Empfohlene Zitierweise:
Karl Wehrhan: Die Sage. Wilhelm Heims, Leipzig 1908, Seite 90. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Sage-Karl_Wehrhan-1908.djvu/98&oldid=- (Version vom 31.7.2018)